Crescendo
Apfelwein auf einem Hocker an der Bar, und ihre nackten Beine schimmerten goldbraun im gedämpften Sonnenlicht. Sie bestellte ein Schinkensandwich, das sie im Handumdrehen bekam, und während sie es verzehrte, unterhielt sie sich ein bisschen mit dem Wirt, der ihr von der Gegend erzählte und sagte, dass er den Pub von seinem Vater übernommen hatte.
Sie bestellte sich noch einen Cider, und als er serviert wurde, stellte sie dem Wirt die Frage, die schon die ganze Zeit an ihr nagte.
»Mit wem haben Sie mich vorhin verwechselt?« Sie lächelte ihn an, und ihr Charme, den sie nur selten einsetzte, zeigte seine gewohnte Wirkung.
»Eine alte Freundin, wenn Sie’s unbedingt wissen wollen.«
»Ich fühle mich geschmeichelt.«
»Sie könnten ihre Zwillingsschwester sein, nur die Augenfarbe ist anders. Ihre waren fast lila.«
»Ich hab die Augen von meinem Vater, das haben jedenfalls immer alle gesagt.«
»Sie haben ja auch hübsche Augen, verstehen Sie mich nicht falsch.«
Sie lachte, erfreut über die Anerkennung. Plötzlich fühlte sie sich sexy, ob von der Hitze oder dem Cider, konnte sie nicht sagen.
»Darf ich fragen, was Sie in unsere schöne Gegend führt?«, fragte der Wirt.
»Ich mache Urlaub.« Es war zwar nicht die ganze Wahrheit, aber sie wollte nicht über sich sprechen. »Erzählen Sie mir mehr über Ihre Freundin.«
»Sie war nicht von hier. Hatte Verwandtschaft, ich glaube, einen Onkel, im Nachbarort. Hat ungefähr ein Jahr hier gewohnt.«
»Fast zwei«, warf einer von den Domino-Spielern ein.
»Hören Sie nicht auf George. Der konnte sie nie leiden.«
»War kein guter Umgang für dich, Junge. Sie hat unserem Dorf kein Glück gebracht.«
»Was hat sie hier gemacht?«
»Sie war Künstlerin. Hatte hier einen Auftrag.«
»Malerin?«
»Nein, Bildhauerin.«
Jetzt fiel bei Nightingale der Groschen.
»Hieß sie Lulu?«
Der Wirt ließ das Geschirrtuch fallen. George rutschten Dominosteine aus der Hand. Nightingale lächelte.
»Woher wissen Sie das?«
»Amelia hat mir von ihr erzählt. Ich hab’s mir gedacht.« Eine einfache Antwort, aber weder George noch der Wirt begnügten sich damit.
»Und woher kennen Sie Amelia?«, fragte der Wirt.
Nightingales Instinkt war stärker als der Cider.
»Von der Kirche. Eine sehr nette Lady.«
»Wenn Sie meinen.« Der Wirt wandte sich ab und verschwand in der Küche.
Die Partie Domino war zu Ende, und Georges Partner erhob sich steifbeinig, um nach Hause zu gehen, bevor »meine Alte mich holen kommt«. Sobald die Kneipentür hinter ihm zufiel, gesellte George sich zu Nightingale an die Bar.
»Er war in sie verliebt. Hat ihretwegen mit dem Fischen aufgehört und was weiß ich nicht alles. Hat ihr sogar gesagt, er würde sie heiraten. Alles umsonst. Sie hatte schon einen andern im Auge, der mehr hergemacht hat. Aber Sie sehen ihr wirklich zum Verwechseln ähnlich. Bis auf die Augen und die Haare. Die von ihr waren so lang, dass sie drauf sitzen konnte. Aber weich wie Seide.«
Nightingale sagte nichts, um den alten Mann nicht aus seinen Erinnerungen zu reißen. Lulu musste wirklich eine Herzensbrecherin gewesen sein. Alle möglichen Männer waren ihr offenbar verfallen.
Sogar ihr Vater.
Der Wirt kam aus der Küche zurück. George nannte ihn Dan. Sie plauderten über Kricket, die schlechte Fischfangsaison und den spärlichen Fremdenverkehr im Spätsommer. Nightingale ging kurz zur Toilette. Als sie wiederkam, spürte sie deutlich, dass die beiden Männer über sie gesprochen hatten. Sie trank ihren Cider aus und zog ihre Brille von der Stirn vor die Augen.
»Sie gehen?« Dan nahm sein Geschirrtuch und polierte energisch ein Glas. Keiner der beiden schenkte ihr einen Blick.
»Ja, ich muss zurück.«
»Zurück wohin, wenn ich fragen darf?«
Er brannte darauf, mehr zu erfahren, das spürte sie. Vielleicht lag es am Cider, aber aus irgendeinem Grund warf sie ihre sonstige Diskretion über Bord.
»Mill Farm, oben auf dem Hügel. Hat früher meiner Tante gehört.«
Die Männer reagierten, als hätten sie einen Stromschlag bekommen.
»Sie sind Ruth Nightingales Nichte?«
»Dann müssen Sie die Tochter sein.«
Sie sagten es wie aus einem Munde.
»Ja. Kannten Sie meine Familie?«
Aber die Männer hörten schon nicht mehr zu. Sie wechselten einen wissenden Blick, bevor George eine Zeitung aufschlug und Dan sich mit einem weiteren Glas beschäftigte.
»Ähm, dann geh ich mal.«
»Einen schönen Tag noch, Miss«. Dan untersuchte das schimmernde Glas
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