Crescendo
auf Flecken.
»Auf Wiedersehen.« George blätterte um.
Enttäuscht über die plötzliche Gleichgültigkeit der beiden verließ Nightingale den Pub und trat nach draußen auf die heißen Pflastersteine. Die Menge teilte sich und schloss sich wieder hinter ihr, als wäre sie nie da gewesen. Sie fühlte sich einsam und konfus, und alles nur, weil zwei missmutige alte Einheimische ihr die kalte Schulter gezeigt hatten.
Die steil abschüssige Straße führte zum Hafen. Sie spazierte sie hinunter, schaute sich die Boote an und machte wieder kehrt. Sie nahm ihr Handy und versuchte wiederholt, ihren Bruder anzurufen, doch sie bekam keinen Empfang und der Akku war bald leer. Vor der Telefonzelle hatte sich eine Schlange gebildet. Sie ging weiter und entdeckte zufällig in einer Seitenstraße ein kleines Internetcafé, wo es auch Veilchenpastillen und lustige Figürchen zu kaufen gab, Elfen und Gnome, die dem Volksglauben nach in der Gegend gehaust hatten. Da die wenigen Plätze besetzt waren, wartete sie geduldig, bis sie endlich online gehen konnte.
Sie hatte Mails bekommen. Sie beschimpfte sich innerlich als Idiotin, als sie ihre Mailbox öffnete. Sie hatte E-Mails vom Präsidium, zwei von Fenwick persönlich, und welche von Pandora. Mit einem mulmigen Gefühl blickte sie auf den Bildschirm, der voll mit ihrem anderen Leben war. Dass Pandora ihr immer noch schrieb, machte sie wütend, und die E-Mails aus Harlden empfand sie als aufdringlich. Wieso meldeten die sich bei ihr, wo sie doch klipp und klar gesagt hatte, dass selbst ein unbezahlter Urlaub ein Zugeständnis ihrerseits war. Sie löschte die Mails ungelesen mit ein paar wütenden Tastenanschlägen, brachte es aber nicht über sich, auch die von Fenwick zu löschen, und öffnete die erste:
Nightingale, ich will Sie nicht beunruhigen, aber es könnte sein, dass es jemand auf sie abgesehen hat, der denkt, dass Griffiths zu Unrecht im Gefängnis sitzt. Seien Sie ganz besonders vorsichtig. Trauen Sie keinem Fremden. Bitte rufen Sie mich an. Meine Privatnummer in Harlden ist 526592. Oder rufen Sie im Präsidium an.
Grüße Andrew Fenwick
Die Mail war zwei Tage nach ihrer Abreise aus Harlden abgeschickt worden. Seitdem hatte sie nur mit Fremden gesprochen und sich nie sicherer gefühlt. Die Warnung war also wirklich unnötig. Sie löschte sie und öffnete die zweite, die erst eine Woche alt war:
Liebe Nightingale, die Sache ist sehr ernst. Es ist jemand hinter Ihnen her, der Griffiths rächen will. Sie könnten in akuter Gefahr sein. Rufen Sie mich unbedingt an oder schicken Sie mir wenigstens eine Mail. Ich muss wissen, ob bei Ihnen alles in Ordnung ist und wo ich Sie erreichen kann. Andrew
Er hörte sich wirklich besorgt an, aber Griffiths hatte keinen Komplizen gehabt. Fenwick irrte sich. Sie wusste nicht, wie sie auf die Warnung reagieren sollte, und öffnete stattdessen die erste Nachricht von Pandora.
LUST AUF EIN SPIELCHEN?
Sie tippte: Rutsch mir doch den Buckel runter! und schickte die Nachricht grimmig lächelnd ab, bevor sie die nächste öffnete.
DU KANNST MICH NICHT IGNORIEREN. ICH BIN JETZT IN DEINEM LEBEN. NENN DEINE STRAFE, SONST MACHE ICH DAS. WENN ICH SPIELE, SPIELE ICH RICHTIG.
Pandora war es endlich zu langweilig geworden, immer die gleiche Nachricht zu wiederholen, und die Frustration war spürbar. Sie ignorierte die verschleierte Drohung und wollte schon die andere, zwei Tage alte E-Mail ungelesen löschen, als sie doch noch neugierig wurde, wie wütend Pandora inzwischen war. Sie öffnete die Mail. Im Nachhinein war es eine dumme Entscheidung.
ICH HABE DEINE STRAFE FESTGELEGT. DIE TODESSTRAFE. OHNE RECHT AUF BERUFUNG. WIE UND WANN SIE VOLLSTRECKT WIRD, ENTSCHEIDE ICH, VÖGELCHEN. WO DU AUCH BIST, WO DU DEIN NEST AUCH VERSTECKT HAST, ICH WERDE DICH FINDEN. ICH WERDE DICH ZU BODEN SCHLEUDERN UND DIR DIE KNOCHEN ZERMALMEN. DU KANNST MIR NICHT ENTKOMMEN, DENN ICH BIN ÜBERALL.
Plötzlich stand Nightingale Schweiß auf der Stirn. Die Härchen auf den Armen stellten sich auf, als ein Schauder sie durchlief. Sie versuchte sich damit zu beruhigen, dass die Nachricht ja schon seit Tagen in ihrer Mailbox steckte und sie noch immer putzmunter war. Warum sollte sie jetzt etwas zu befürchten haben? Dennoch war es eine Todesdrohung. Vielleicht hatte Fenwick ja genau das mit seiner Warnung gemeint. Die Polizistin in ihr erinnerte sie daran, dass es sich bei der Mail um ein Beweismittel handeln könnte, also druckte
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