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Crescendo

Crescendo

Titel: Crescendo Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: corley
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er jetzt Assistenzarzt und wollte sich später auf Orthopädie spezialisieren.
    Sie schüttelte den Kopf. Er war jetzt alles, was von ihrer 35

    Familie noch übrig war, aber es deprimierte sie immer, wenn sie bei Simon und seiner Frau Naomi war. Sie lebten in einer Welt voller häuslicher Glückseligkeit, und Nightingale kam sich vor wie von einem anderen Stern, wenn sie die beiden besuchte. Außerdem sagten sie hartnäckig Diane zu ihr, der Name, den ihre Mutter für sie ausgesucht hatte, obwohl sie sich schon seit Anfang der höheren Schule nur noch mit ihrem zweiten Vornamen anreden ließ.
    Das Lämpchen für neue Nachrichten blinkte noch immer.
    Sie riss sich aus den Erinnerungen an Streitereien in ihrer Kindheit und drückte die Taste erneut, um die nächste Nachricht abzuhören. Nur Schweigen und schweres Atmen. Bei der dritten Nachricht genauso. Sie löschte beide und verfluchte den Perversling, der sich ausgerechnet ihre Nummer herausgepickt hatte.

    36

    Kapitel zwei
    Der Häftling strich die drei Tage alte Zeitung glatt und faltete scharfe Knicke um den gewünschten Artikel herum, ehe er mit einem Ruck an der Seite riss. Das billige Papier teilte sich fügsam, und er wiederholte die Bewegung, bis er den Text komplett herausgelöst hatte, was ihm einen zufriedenen Seufzer entlockte. Scheren waren nicht erlaubt. Er galt aufgrund seiner langen Gefängnisstrafe und wegen der Ergebnisse eines psychiatrischen Gutachtens als potenzieller Selbstmörder.
    Sein Psychiater hatte ihm, als er auch nur andeutungsweise Interesse an der Presseberichterstattung über seine Taten bekundete, gleich vorgeschlagen, sich ein Album mit Zeitungsausschnitten anzulegen. Manche der lächerlichen Theorien hinsichtlich seines Tatmotivs fand er äußerst amüsant. Er wurde als gefährlich und unberechenbar dargestellt, als ein Mann, von dem man sich tunlichst fernhielt. Das hatte ihm unter seinen Mitgefangenen einen gewissen Ruf eingebracht, obwohl es für einen Vergewaltiger im Knast nicht ungefährlich war. Er wurde zwar gehasst, wie alle Sexualtäter, aber es griff ihn niemand mehr an. Der Letzte, der es getan hatte, lag noch immer auf der Krankenstation, was den anderen als Warnung diente. Dafür schikanierten ihn jedoch die Aufseher, und die Mithäftlinge schauten absichtlich weg.
    Er hatte alles gesammelt, was über den Prozess in der Zeitung stand, doch die Berichterstattung war inzwischen fast 37

    völlig versiegt, und die Erkenntnis, Schnee von gestern zu sein, deprimierte ihn fast genauso wie seine Haft. Wie konnte er seinen Anspruch auf Berufung begründen? Er legte den ausgerissenen Zeitungsartikel auf eine Seite des Albums, neben etwas, das er selbst geschrieben hatte. Seine Kommentare und Bemerkungen über das Leben halfen ihm, die dunkle Seite fern zu halten. Während er die Ränder des neuesten Zeitungsausschnitts mit ungiftigem Kleber betupfte, überlegte er, was er als Nächstes tun würde. Er hatte erst wenige Wochen seiner Haftstrafe abgesessen und machte schon Pläne.
    Nicht so wie die anderen hier im Knast. Vielleicht würde es ihm schneller zu einer Berufung verhelfen, wenn er in die Kirche eintrat? Ein bekehrter Christ kam immer gut an.
    Er probte ganze Gespräche im Kopf. Einmal war er fast zu Tränen gerührt. Er war unglaublich geschickt darin, in andere Rollen zu schlüpfen, deshalb war er bei THE GAME auch unschlagbar gewesen, aber hier durfte er nicht mal in die Nä-
    he eines Computers. Einer von den Aufsehern hatte ihm versichert, dass er sich das für alle Zeit abschminken könne. Er wusste aus der Zeitung, dass es Websites über ihn gab. Manche waren übel, diffamierend, stammten von rachsüchtigen Angehörigen und Freunden der Opfer. Das ließ ihn kalt. Die Website, die ihn interessierte, war die, die seine »Verbrechen«
    kritisch betrachtete und seine Unschuld beteuerte. Er erkannte den Stil.
    Plötzlich ging seine Zellentür auf, und er blickte verwirrt auf die Uhr. Das war ungewöhnlich. Als er Saunders’ grinsendes Gesicht sah, bekam er Angst und hoffte, dass sie ihm nicht anzumerken war.
    »Besuch. Los, beweg deinen Arsch.« Der Aufseher trat ihm fest ins Gesäß, weckte alte Prellungen zu neuem Leben. Er war einer der schlimmsten Schläger, und seine Kollegen 38

    blickten weg, wenn Saunders dem Häftling 35602K seine besondere Aufmerksamkeit widmete.
    Er ging in den Besucherraum und blickte sich um, musterte die Anwesenden fragend, bis Saunders ihn von hinten an-schubste. Die Tische standen

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