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Crescendo

Crescendo

Titel: Crescendo Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: corley
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Schornstein und schließlich das Haus.
    Sie fuhr über Unkraut und Brennnesseln, hörte Brombeer-zweige über den Lack ihres Wagens kratzen, bis sie vor der Vordertür hielt. Sie war zu Hause.
    Eine Windböe peitschte dicke Regentropfen aufs Dach ihres Wagens, dann war es still. Sie blickte auf das Haus. Ein Fenster im Erdgeschoss war zerbrochen, ein weiteres oberhalb der Haustür hing schief in den Angeln. In der Dachrinne hatten Vögel ihre Nester gebaut, und die Wände unter den Traufen waren mit alten Schwalbennestern übersät. In dem 202

    schönen Bauerngarten waren einmal Stockrosen und Sonnenblumen gewachsen. Jetzt kämpfte eine Armee gefährlich grüner Brennnesseln mit Ampfer und einer wilden Rose, deren rosaweiße Blütenblätter zwischen den kümmerlichen Resten von Hagebutten vom letzten Herbst leuchteten.
    Ein großer Eisenschlüssel passte genau ins Haustürschloss.
    Sie konnte ihn mühelos drehen, aber die Türklinke ließ sich nicht herunterdrücken. Schließlich kletterte sie durch das kaputte Fenster in die modrige, mit Steinplatten ausgelegte Diele, wo sie vorsichtig über Glasscherben auf dem Boden ging. Unter die Klinke der Haustür war ein Stuhl geklemmt, den sie beiseite schob. Gegenüber der Treppe nach oben war ein Kamin, in dem das Skelett eines großen Vogels lag. Weiter hinten führte ein Gang zur Rückseite des Hauses und in die Küche. Irgendwann hatte hier jemand kampiert. Aus den meisten Küchenstühlen war Kleinholz zum Verfeuern gemacht worden, und an der Kaminwand lag eine angeschim-melte, alte Matratze. Trotz der Verwahrlosung fühlte Nightingale sich beschwingt und erkundete den Rest des Hauses.
    Wer immer sich hier heimlich eingenistet hatte, er war wählerisch gewesen. Das Esszimmer mit der riesigen, dunklen Eichenanrichte war unberührt. Mit einem Lächeln, das ihre Tante wieder erkannt hätte, sprang sie darauf zu und schob die Finger unter die Abdeckplatte. Mit einer geschickten Drehung löste sie den Verschluss der geheimen Schublade, die sogleich aufsprang. Als Kind war sie in dieses große Geheimnis eingeweiht worden, musste aber versprechen, niemals hineinzuschauen. Und sie hatte es nie getan, bis heute.
    Als sie die Schublade aufzog, entwich ein kleiner Seufzer ins Zimmer. Sie fand ein Bündel Briefe, das mit einem ver-blassten, blauen Band verschnürt war, ein Tagebuch, ein Foto und den Rosenkranz ihrer Tante. Zuoberst lag ein Kuvert 203

    mit der schrägen Handschrift ihrer Tante. Mit einem Schauder, der ihr die Nackenhaare aufstellte, sah sie, dass der Brief an sie adressiert war. Es war, als hätte der Geist ihrer Tante all die Jahre auf ihre Rückkehr gewartet, und sie hatte ein schlechtes Gewissen, dass sie erst jetzt hergekommen war.
    Weil es im Haus zu kalt war, nahm sie den Brief mit in den Wagen. In dem mit Wachs versiegelten Umschlag waren zwei handbeschriebene Blätter.

    Meine liebe Louise, (ihre Tante hatte sie stets bei ihrem bevorzugten Namen genannt) ich werde dich wohl nicht noch einmal sehen, und dabei habe ich dir noch so viel zu sagen. Erstens, Du bist ein wunderbares Mädchen, vergiss das nie.
    Du hast ganz besondere Begabungen, ich denke da nur an deine Intelligenz, deine Warmherzigkeit und deine Menschenkenntnis. Lass dir niemals einreden, Du seist nicht kreativ, denn das bist Du. Ich weiß nicht, wie sich Deine Kreativität einmal ausdrücken wird, aber sie ist da, keine Frage, denn Du bist deiner Mutter in so vieler Hinsicht ähnlich.

    Nightingale hörte erstaunt auf zu lesen. Sie hatte gedacht, dass ihre Tante und ihre Mutter einander nie besonders leiden konnten.

    Wenn ich nicht mehr da bin, werden die Leute viel Schlechtes über mich erzählen, aber meine Liebe zu Dir ist stark, und ich werde von dort, wo ich hingehe, auf Dich aufpassen. Ich habe in den letzten Wochen überlegt, wie viel ich Dir von gewissen Dingen verraten soll, von denen Du nicht das Geringste ahnst. Du bist noch zu jung für die ganze 204

    Wahrheit, und es wäre Deinem Vater gegenüber nicht fair, Dinge zu enthüllen, die er Dir selbst erzählen sollte. Er hat mir versprochen, dass er mit Dir spricht, wenn du alt genug bist, und darauf muss ich vertrauen.
    Trotzdem fürchte ich, dass er sein Versprechen vielleicht bricht oder vergisst. Also habe ich mich für die zweitbeste Lösung entschieden. Zusammen mit diesem Brief findest Du in unserer Schublade einige meiner Tagebücher und Briefe. Falls Du schlau genug bist, und da habe ich keine Zweifel, und wenn Du über

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