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Crescendo

Crescendo

Titel: Crescendo Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: corley
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zurück und bog auf den schmalen Feldweg, der zwischen zwei Steinpfosten hindurchführte. Ein Eisentor lag im Graben, überwuchert von Efeu und Brom-beergestrüpp.
    »Soll ich Sie hier rauslassen? Ich glaub, ich komme jetzt allein klar.«
    »Ist für mich kein Umstand, fahren Sie zu.« Er klang richtig aufgeregt. »Ich war seit Jahren nicht hier, seit Ruths Tod nicht mehr.«
    »Sie war die Schwester meines Vaters.«
    »Ist verrückt geworden und hat sich ins Meer gestürzt. Ihr Tod wurde offiziell als Unfall eingestuft, deshalb musste ich sie wohl oder übel bei der Kirche im Familiengrab bestatten.
    Ein Jammer. Merkwürdige Frau. Lag in der Familie.«
    Nightingale musste gerade einigen Schlaglöchern ausweichen und eine scharfe Kurve nehmen, deshalb hatte sie eine Entschuldigung für ihr Schweigen. Was sie schockierte, war weniger die Gefühllosigkeit des Pfarrers als vielmehr seine unchristliche Einstellung.
    »Ich denke, Sie steigen jetzt besser aus.«
    »Ja, der Hügel ist steil. Sie kommen direkt zum Haus, nach etwa zwei Meilen. Wir sehen uns dann in der Kirche. Frühgottesdienst ist freitags und sonntags morgens um acht, Hauptgottesdienst um elf und Abendandacht um sechs.«
    Er war ausgestiegen, bevor Nightingale etwas erwidern konnte, und stolzierte den Hügel hinab wie eine alte Krähe.
    Als Nightingale anfuhr, drehten die Hinterräder im Schlamm durch, bis sie griffen und der Wagen einen Satz nach vorn machte. Nach einer Meile lichtete sich der dichte Wald, und 200

    sie näherte sich einem geschlossenen Tor in einer Mauer, die am Waldrand verschwand. Nightingale stieg aus und öffnete mit einem der Schlüssel, die ihr Bruder ihr gegeben hatte, ein rostiges Vorhängeschloss. Dahinter fiel der Weg in eine Senke ab und überquerte einen Bach, stieg dann wieder an und führte durch ein Eschenwäldchen.
    Dieser Abschnitt der Strecke war ihr vertraut. Das jähe Gefälle sorgte selbst an einem sonnigen Tag für ein geheimnisvolles Frösteln. Als Kind hatte sie beim Überqueren des Baches immer das Gefühl gehabt, eine andere Welt zu betreten, und einmal hatte sie das auch ihrem Vater gesagt. Er hatte ihr eine ausufernde Phantasie vorgeworfen und ihren Gedanken mit einer typischen Handbewegung als albern abgetan, um sich dann aber selbst ausführlich in Erinnerungen zu ergehen.
    »Es war früher nicht nur eine Farm, sondern auch ein Mühlbetrieb«, hatte er gesagt. »Das Rad wurde vom Wasser angetrieben. In meiner Kindheit war der Bach nämlich noch so stark wie heute nur bei Hochwasser. Jetzt hat er nicht mehr die Kraft, das Mühlrad anzutreiben. Die Mühle hat unserer Familie Wohlstand gebracht, weil es hier in der Gegend nur ganz wenige gab. Im neunzehnten Jahrhundert hat sich die Familie dann auf den Einzelhandel verlegt, Geschäfte und Läden gekauft und die Farm hier mehr oder weniger vergessen. Aber ohne die Mühle hätten wir es nicht zu Geld gebracht. Deshalb ist sie so wichtig für uns.«
    Nightingale lächelte, als ihr die Worte ihres Vaters einfielen. Es war für seine Verhältnisse eine lange Rede gewesen, aber andererseits waren Geld und die Familie seine Lieblings-themen. Für Nightingale hatte Mill Farm nicht Reichtum bedeutet, sondern etwas viel Wichtigeres – Sicherheit. Jedes Mal, wenn sie die Furt überquerte, gelangte sie an einen ab-201

    geschiedenen, geborgenen Ort, wo sie als Kind glücklich gewesen war.
    Tante Ruth hatte sie so geliebt, wie sie nie wieder von einem Menschen geliebt worden war. Wenn sie in den Sommerferien hier war, träumte sie manchmal, sie und ihre Tante wären durch Überschwemmungen oder meterhohen Schnee von der Außenwelt abgeschnitten und könnten nur durch Vorräte aus dem Garten, Fischfang und Jagd überleben. Woche für Woche durchstreifte sie die Hügel, ging im Meer schwimmen oder saß an Regentagen mit ihrem Lieblingsbuch gemütlich an dem großen, grünen Ofen.
    Das gleiche Abenteuergefühl beschlich sie, als der Wagen erneut in eine Senke zwischen den Hügeln tauchte und dann den letzten Hang erklomm. Nur wenige Meilen hinter ihr drängten sich Menschen unter Regenschirmen in hektischen Städtchen, aber hier war es, als würden sie gar nicht existieren.
    Der Regen wurde schwächer, und sie stellte die Schei-benwischer aus. Allmählich machten die letzten Ausläufer des Waldes hohem Gras und Disteln Platz. Dahinter, schwach wie Rauch, konnte man grauen Schiefer erahnen, und ihr Herz machte einen Sprung. Das Dach kam in Sicht, dann ein bedenklich geneigter

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