Crisis
aktuellen Sonnenstands diesmal seine tief liegenden Augen erkennen. Sie glichen zwei glänzenden schwarzen Murmeln. Jack verspürte erneut den Drang, ihm zuzuwinken, aber diesmal siegte die Vernunft. Er hatte am Morgen schon seinen Spaß gehabt. Es war vollkommen unsinnig, ihn über Gebühr zu provozieren.
»Warst du von Craigs Bemerkungen beim Mittagessen genauso überrascht wie ich?«, wollte Alexis wissen.
Bereitwillig brach Jack den Blickkontakt mit Franco ab und drehte sich hastig zu seiner Schwester um. »Ich würde sagen, ›platt‹ trifft es besser. Ich will ja nicht zynisch klingen, aber das passt doch gar nicht zu ihm. Sind sich Narzissten ihres Narzissmus bewusst?«
»Normalerweise nicht, es sei denn, sie befinden sich in Therapie und sind motiviert. Natürlich spreche ich jetzt von jemandem mit einer wirklichen dysfunktionalen Persönlichkeitsstörung, nicht von den leicht narzisstischen Zügen, die bei den meisten Ärzten zu beobachten sind.«
Jack enthielt sich eines Kommentars. Er wollte sich nicht mit Alexis darüber streiten, welcher Kategorie Craig angehörte. Stattdessen fragte er: »Ist diese Erkenntnis eine vorübergehende Reaktion auf die Stresssituation oder tatsächlich eine Veränderung in seiner Selbstwahrnehmung?«
»Das wird sich zeigen«, sagte Alexis. »Aber ich will es hoffen. Das wäre eine sehr positive Entwicklung. Im Grunde ist Craig das Opfer eines Systems, das ihn dazu getrieben hat, sich ständig mit andern zu messen und sie zu übertreffen, und die einzige Möglichkeit, zu erkennen, dass er besser war als andere, war nun mal das Lob seiner Lehrer wie zum Beispiel Dr. Brown. Wie er selbst zugegeben hat, wurde er mit der Zeit süchtig nach dieser Art von Bestätigung. Nach dem Ende seines Studiums war er plötzlich davon abgeschnitten, wie ein Süchtiger, dem man seine Droge verweigert, während er gleichzeitig von der Realität des Arztberufs enttäuscht war.«
»Ich glaube, so geht es vielen Ärzten. Sie brauchen Lob.«
»Bei dir war das aber nicht der Fall. Wie kommt das?«
»Doch, bis zu einem gewissen Grad war es bei mir genauso, als ich noch meine Augenarztpraxis hatte. Randolph hat Dr. Brown dazu gebracht, zuzugeben, dass das an der wettbewerbsorientierten Struktur des Medizinstudiums liegt. Aber ich war als Student nicht so monomanisch wie Craig. Ich hatte neben der Medizin auch noch andere Interessen. Und ich habe für mein Praktikum in der Inneren im dritten Jahr nur ein A minus bekommen.«
Jack zuckte zusammen, als das Handy in seiner Hosentasche vibrierte. Er hatte den Klingelton abgestellt. Hektisch versuchte er es aus der Tasche zu zerren. Aus unerfindlichen Gründen jagte ihm das Handy immer einen Schrecken ein.
»Ist irgendwas?«, fragte Alexis, die verwundert seine Verrenkungen musterte.
»Das verdammte Handy«, erklärte Jack. Schließlich gelang es ihm, es herauszuziehen. Er warf einen Blick auf das Display. Es war eine 617er Vorwahl, also Boston. Dann erkannte er die Nummer wieder. Es war das Bestattungsinstitut.
»Ich bin gleich wieder da«, sagte Jack. Er stand auf und verließ hastig die Sitzreihe. Wieder spürte er Francos starren Blick, doch diesmal erwiderte er ihn nicht. Stattdessen verließ er den Gerichtssaal. Erst als er draußen war, nahm er den Anruf entgegen.
Leider war der Empfang schlecht, und er beendete das Gespräch. Dann fuhr er eilig mit dem Aufzug ins Erdgeschoss und verließ das Gebäude. Über die Liste der eingegangenen Anrufe suchte er die Nummer heraus. Kurz darauf hatte er Harold am Apparat, und Jack entschuldigte sich für die schlechte Verbindung von vorhin.
»Kein Problem«, entgegnete Harold. »Ich habe gute Nachrichten. Der Papierkram ist erledigt, die Genehmigungen sind erteilt, und alles Weitere habe ich auch schon organisiert.«
»Wunderbar«, sagte Jack. »Wann ist es so weit? Heute Nachmittag noch?«
»Nein! Das wäre wirklich ein Wunder gewesen. Morgen, im Laufe des Vormittags. Das ist das Beste, was ich herausholen konnte. Sowohl der LKW der Sarkophag-Firma als auch der Bagger sind heute den ganzen Tag über unterwegs.«
Enttäuscht, dass doch kein Wunder geschehen würde, dankte Jack dem Bestatter und beendete das Gespräch. Er blieb ein paar Minuten stehen und dachte darüber nach, ob er Laurie anrufen und ihr erzählen sollte, wann die Obduktion stattfinden würde. Zwar wusste er, dass dieser Anruf angebracht wäre, aber er verspürte nicht die geringste Lust dazu, denn er konnte sich vorstellen, wie
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