Crisis
sicher bin, dass Sie sich darüber bereits im Klaren sind. Reden Sie mit niemandem … ich wiederhole … mit niemandem über diese Angelegenheit außer Ihrer Ehefrau und dem Anwalt, dem wir den Fall übertragen! Das betrifft all Ihre Kollegen, Bekannten und selbst enge Freunde. Das ist sehr wichtig.«
Schuldbewusst sah Craig über den Tisch zu Leona hinüber, als er erkannte, wie viel er bereits unbedacht ausgeplaudert hatte. »Enge Freunde?«, fragte Craig. »Das bedeutet unter Umständen auf emotionalen Rückhalt verzichten zu müssen.«
»Dessen sind wir uns bewusst, aber die Kehrseite ist noch schlimmer.«
»Und was genau ist die Kehrseite?« Er war sich nicht sicher, wie viel Leona von dem, was sein Gesprächspartner sagte, hören konnte. Sie beobachtete ihn aufmerksam.
»Weil Freunde und Kollegen zum Beweiserhebungsverfahren herangezogen werden können. Anwälte der Klägerseite können, wenn es ihren Interessen dient, Freunde, sogar enge Freunde, und Kollegen zwingen, als Zeugen auszusagen, und sie nutzen diese Möglichkeit häufig mit großem Erfolg.«
»Ich werde daran denken«, sagte Craig. »Danke für Ihre Ratschläge, Mr Marshall.« Craigs Puls ging wieder schneller. Wenn er ehrlich war, musste er zugeben, dass er Leona über ihre jugendliche und verständliche Ichbezogenheit hinaus gar nicht kannte. Seine Geschwätzigkeit steigerte seine Sorge noch.
»Und ich danke Ihnen, Dr. Bowman. Wir werden uns bei Ihnen melden, sobald wir die Ladung und die Klageschrift erhalten haben. Versuchen Sie, sich zu entspannen, und leben Sie ganz normal weiter.«
»Ich werde es versuchen«, entgegnete Craig nicht sehr überzeugt. Er wusste, dass eine dunkle Wolke über ihm hängen würde, bis die ganze Angelegenheit ausgestanden war. Was er jedoch nicht wusste, war, wie dunkel sie tatsächlich werden sollte. Unterdessen schwor er sich, darauf zu achten, Leona nicht noch einmal auf ihren Akzent anzusprechen. Er war klug genug, zu wissen, dass das, was er ihr über seine Gefühle gegenüber Patience Stanhope anvertraut hatte, vor Gericht sicher nicht gut ankommen würde.
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New York City
9. Oktober 2005
16.45 Uhr
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Jack Stapleton richtete seine Aufmerksamkeit auf das Herz und die Lungen. Vor ihm auf dem Sektionstisch lag der nackte Leichnam einer siebenundfünfzigjährigen weißen Frau, deren Organe er bereits entnommen hatte. Der Kopf des Opfers ruhte auf einem Holzblock, und ihre Augen starrten leer in die Neonleuchten an der Decke. Bis zu diesem Stadium der Autopsie hatte er kaum pathologische Anomalien entdeckt, abgesehen von einem recht großen, offenbar asymptomatischen Uterusfibrom. Vor allem hatte er noch nichts gefunden, was den Tod einer scheinbar gesunden Frau erklären konnte, die bei Bloomingdale’s zusammengebrochen war. Miguel Sanchez, der Sektionsgehilfe in der Abendschicht, der um fünfzehn Uhr zur Arbeit gekommen war, assistierte ihm. Während Jack sich anschickte, das Herz und die Lunge zu untersuchen, war Miguel am Becken damit beschäftigt, den Darm auszuwaschen.
Schon beim Abtasten der Lungenoberfläche bemerkten Jacks erfahrene Hände einen ungewohnten Widerstand. Das Gewebe war fester als üblich, was zu der Tatsache passte, dass das Gewicht des Organs größer war als gewöhnlich. Mit einem Messer, das wie ein ganz normales Fleischermesser aussah, machte Jack mehrere parallele Schnitte in die Lunge. Wieder war da ein Hauch mehr Widerstand, als er erwartet hätte. Er hob die Lunge hoch und nahm die Schnittflächen in Augenschein, an denen die Konsistenz des Organs zu erkennen war. Die Lunge wirkte dichter als üblich, und er war zuversichtlich, dass die mikroskopische Untersuchung eine Fibrose ergeben würde. Die Frage war … warum war die Lunge fibrotisch?
Jack wandte sich dem Herzen zu und nahm eine Gefäßklemme und eine abgerundete Schere zur Hand. Als er sich gerade daranmachen wollte, den Herzmuskel zu untersuchen, öffnete sich die Tür zum Korridor. Jack zögerte, als eine Gestalt auftauchte und auf ihn zukam. Es dauerte nur einen Moment, bis er trotz des Lichts, das sich in ihrer Plastik-Gesichtsmaske spiegelte, Laurie erkannte.
»Ich habe mich schon gefragt, wo du steckst«, sagte Laurie und klang eine Spur verärgert. Genau wie Jack und Miguel trug sie einen Einweg-Tyvek-Schutzanzug. Dr. Calvin Washington, der stellvertretende Leiter des rechtsmedizinischen Instituts, hatte strikte Anweisung erteilt, im Sektionssaal stets einen solchen Anzug zu tragen, um sich vor
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