Crisis
Das werde ich brauchen.«
Jack beendete das Gespräch und steckte das Handy wieder ein. Einen Moment lang spitzte er die Ohren und lauschte auf ein Geräusch in dem großen Haus. Aber es herrschte Totenstille. Er entnahm dem Umschlag sämtliche Papiere und legte sie auf das Beistelltischchen. Als Erstes las er einen Aufsatz, den Craig zusammen mit einem bekannten Zellbiologen aus Harvard verfasst und im renommierten New England, Journal of Medicine veröffentlicht hatte. Er beschäftigte sich mit der Funktion von Natriumkanälen in Zellmembranen, die für die Erregung von Aktionspotenzialen in Nerven und Muskeln verantwortlich waren. Es gab sogar ein paar Diagramme und elektronenmikroskopische Aufnahmen subzellularer Molekularstruktur. Er warf einen Blick auf den »Material und Methode«-Abschnitt. Er konnte sich kaum vorstellen, wie jemand auf solch obskure Theorien kommen, geschweige denn sie erforschen konnte. Da er feststellte, dass das alles sein momentanes Verständnis überstieg, legte er den Aufsatz achtlos zur Seite und griff stattdessen nach einem Befragungsprotokoll. Es war die Aussage von Leona Rattner.
----
Kapitel 7
----
Boston, Massachusetts Dienstag, 6. Juni 2006 06.48 Uhr
Das Erste, was zu Jack durchdrang, war ein entfernter Streit, gefolgt von einer mit erschütternder Wucht zugeschlagenen Tür. Einen Moment lang versuchte er, die Geräusche in seinem Traum unterzubringen, aber es ergab keinen Sinn. Dann öffnete er die Augen, nur um zu erkennen, dass er nicht die geringste Ahnung hatte, wo er sich befand. Nachdem er sowohl den in helles Sonnenlicht getauchten Brunnen vor dem Erkerfenster als auch den Raum gemustert hatte, kehrte seine Erinnerung blitzartig zurück. In der Hand hielt er das Protokoll der Aussage einer Krankenschwester namens Georgina O’Keefe aus dem Newton Memorial Hospital, das er gerade gelesen hatte, als er eingeschlafen war.
Jack sammelte alle Unterlagen aus dem Stanhope gegen Bowman-Behandlungsfehler-Fall zusammen und schob sie in den Umschlag. Dann stand er auf. Ein plötzliches Schwindelgefühl ließ ihn kurz innehalten.
Er hatte keine Vorstellung davon, um wie viel Uhr er eingeschlafen war. Er hatte die gesamten Unterlagen durchgelesen und war gerade dabei gewesen, sich die interessantesten noch mal vorzunehmen, als ihm irgendwann die Augen zugefallen waren. Zu seiner Überraschung hatte ihn das Material von Anfang an gefesselt. Wenn seine Schwester nicht mittelbar in die Geschichte verwickelt wäre, hätte er sie für das unterhaltsame Drehbuch einer Seifenoper halten können, denn von den Seiten sprangen ihm die farbigen Charaktere der Figuren entgegen. Da war der begabte, engagierte, aber arrogante und ehebrecherische Arzt; die verschmähte, zornige attraktive junge Geliebte; der korrekte und eher wortkarge trauernde Witwer; die kompetenten, aber streitbaren Sachverständigen; die Parade der übrigen Zeugen; und schließlich das scheinbar hypochondrische Opfer. Es war eine Komödie menschlicher Schwächen, abgesehen von dem unglücklichen tödlichen Ausgang und der Tatsache, dass sie schließlich in einer Klage gemündet hatte. Was den möglichen Ausgang des Verfahrens betraf, fand Jack, zumindest nach der Lektüre der Unterlagen, Alexis’ Sorge und Pessimismus durchaus berechtigt. Mit dieser Großspurigkeit und Arroganz, die in den späteren Abschnitten von Craigs Aussage zum Ausdruck kamen, hatte er sich keinen Gefallen getan. Dem Anwalt des Klägers war es gelungen, ihn so klingen zu lassen, als empfände er es als eine Ungeheuerlichkeit, dass sein ärztliches Urteilsvermögen in Frage gestellt wurde. Das kam bei keiner Jury gut an. Und obendrein hatte Craig auch noch angedeutet, dass seine Frau schuld daran gewesen sei, dass er eine Affäre mit seiner Sekretärin begonnen hatte.
Wenn Jack gedrängt wurde, das Ziel seiner Arbeit als Rechtsmediziner zu beschreiben, antwortete er gewöhnlich
– zu einem gewissen Grad hing es von dem Fragenden und der Situation ab –, dass er »für die Toten spreche«. Während er Stanhope gegen Bowman überflog, stellte er fest, dass er hauptsächlich an das Opfer und an die unglückliche, aber offensichtliche Tatsache dachte und daran, dass es nicht im Beweiserhebungsverfahren befragt werden oder als Zeugin aussagen konnte. Er sann darüber nach, wie es den Fall wohl beeinflussen würde, wenn Patience Stanhope in der Lage wäre, am Prozess teilzunehmen, und während er diesen Gedanken weiterspann, gelangte er zu
Weitere Kostenlose Bücher