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Cristóbal: oder Die Reise nach Indien

Cristóbal: oder Die Reise nach Indien

Titel: Cristóbal: oder Die Reise nach Indien Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Erik Orsenna
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freut man sich mit über das Glück dessen, den man liebt.
    Doch andererseits ist man zerknirscht oder traurig: Eine bislang unbekannte Person entführt einem den geliebten Bruder, den man in Bälde bestenfalls noch stückweise zu Gesicht bekommen wird.
    Als ich aus der Kirche trat, in der soeben Cristóbal Filipa zur Frau genommen hatte, taumelte ich und blieb auf dem Vorplatz über den Treppenstufen einfach stehen, während die Glocken mit großem Geläut ihr Möglichstes taten, um den Himmel freundlich zu stimmen. Einen Schritt weiter, und ich stürze in einen Abgrund, dachte ich, in den Abgrund eines Lebens ohne ihn.
    Spottet nur! Was für ein empfindliches Seelchen, dieser Bartolomeo! Was für eine weibliche Gefühlsduselei! Hat der ach so geliebte Cristóbal seinen Bruder nicht von Kindheit an daran gewöhnt, dass er fortgeht, immer und immer wieder fortgeht?
    Wenn man es recht bedenkt, ist eine Eheschließung eine Seefahrt wie jede andere. Genau dieser Gedanke machte mir wieder Mut.
    Und wer kam am nächsten Morgen, während ich dachte, er sei mit ganz anderen und sehr intimen Dingen beschäftigt, mit offenen Armen und einem Lächeln auf den Lippen zu mir? Mein Bruder, der frisch Vermählte.
    Wissend, dass sein Kommen das seltenste und unwahrscheinlichste Geschenk war, spielte er damit mit vollendeter Kunst: Er tauchte immer dann auf, wenn man ihn am wenigsten erwartete, und war sicher, dass sein Kommen sich auf ewig in die Seelen einprägen würde. Er war sich auch sicher, dass er diese Seelen damit ein Leben lang an sich band und… alles von ihnen würde verlangen können.
    Cristóbal änderte seine Methode auch an jenem Tag nicht.
    Kaum hatte er mich umarmt und mit allerhand Schmeicheleien bedacht, wie sehr er sich freue, dass ich, Bartolomeo, als einziger Vertreter seiner Genueser Familie seiner Hochzeit beigewohnt habe, was von unvergleichlichem Wert für ihn gewesen sei (usw.), kaum hatte er mir geschworen, dass diese Vermählung nichts an dem unantastbaren, unveräußerlichen, unzerstörbaren (usw.) brüderlichen Band zwischen uns ändern würde, da senkte er die Stimme und trug mir sein Anliegen vor:
    «Bartolomeo, ich brauche dich.»
    «Rück raus damit.»
    Von Cristóbal ging eine solche Kraft aus, dass es einem immer als die einzige Rechtfertigung der eigenen Existenz erschien, dieser Kraft und ihren Absichten zu dienen, was immer Letztere sein mochten. Ob Mann, Frau, Pflanze oder Tier, der einzige Grund, auf der Welt zu sein, war, zu den Träumen dieses großen rothaarigen Seefahrers einen Beitrag zu leisten.
    «Es geht um ein Buch, Bartolomeo.»
    Unsere Schritte waren unseren Gewohnheiten vor der Hochzeit gefolgt, und so landeten wir, als ob es Filipa nie gegeben hätte, wieder vor einem Glas Vinho Verde in unserem liebsten Gasthaus, dem
Schweigenden Papageien.
    «Die Familie meiner Frau hat mich auf die Spur gebracht. Anscheinend erfährt man aus dem Buch alles.»
    «Alles worüber?»
    «Alles über die Gestalt und die Größe der Erde. Alles über die Ausdehnung der Ozeane, also über die Entfernung zwischen den Kontinenten. Alles über die Möglichkeit, am Äquator und auf der anderen Seite des Globus zu leben…»
    Ständig unterbrachen ihn Bekannte, Kartographen oder Seemänner, die sich wunderten, den frischgebackenen Ehemann so früh am Morgen außer Haus anzutreffen: Was tust du hier? Schon genug? Du bist aber schnell wieder bei der Arbeit! Schneller als ein Kaninchen!… Filipa war eine Edeldame, die Hochzeit war mit großem Pomp gefeiert worden und niemandem in Lissabon verborgen geblieben.
    Cristóbal jagte die aufdringlichen Zaungäste ohne Umstände mit dem Handrücken zum Teufel, als wären sie Insekten und nicht der geringsten Erklärung würdig.
    Er beugte sich zu mir, sein Mund streifte mein Ohr.
    «Ymago mundi, Das Bild der Welt:
So heißt es. Der Verfasser ist ein gewisser Pierre d’Ailly, der lange Bischof von Cambrai war, einer Stadt in Nordfrankreich. Ich brauche dieses Buch.»
    Und weg war er, zurück bei seiner Vermählten, ohne sich umzudrehen. Er kannte nur zu gut den Einfluss, den er auf mich hatte. Er wusste, dass ich bereits ganz mit meinem Auftrag beschäftigt war, glücklich und zufrieden, mich für ihn aufzuopfern. Wenn er, dachte ich, diese vertrauliche und für sein Unternehmen so entscheidende Suche mir überlässt, heißt das zum Einen, dass er mehr Vertrauen in mich hat als in jeden anderen, und zum Zweiten, was am wichtigsten ist, dass sein Bruder Bartolomeo

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