CROMM - Das Dorf findet dich
Aufatmen. Sie hatte es zuerst ausgesprochen. Aber diesmal schien sie es bemerkt zu haben, wie erleichtert er war. Bevor er etwas sagen konnte, erlöste ihn der Klingelton ihres Mobiltelefons. Jakob schaute in den Rückspiegel. Der BMW war noch hinter ihm und auf dem Beifahrersitz hielt seine Schwester ihr Telefon ans Ohr. Sie winkte kurz. Er winkte zurück.
»Sie müssen mal«, stellte Madlen fest, als sie aufgelegt hatte, »und ich habe Hunger. In zehn Kilometern kommt eine Raststätte.«
Die Achterbahn in seinem Körper hatte auch seinen Bauch geleert. Auch wenn er annahm, nichts hinunterzukriegen, spürte er den Hunger. Ein Brötchen vielleicht und dazu einen Kaffee. Außerdem wollte er eine rauchen.
Madlen schaltete das Autoradio wieder an und der nächste Song von Michael Jackson dröhnte aus den Boxen. Don't try to fight it. There ain't nothing that you can do. Diese Zeilen bekamen für Jakob eine ganz andere Bedeutung. Nein, bekämpfen konnte er nicht, was passierte. Aber er wollte sich auch nicht ergeben. Er musste reden, mit seiner Schwester.
Larissa kannte diesen Blick ihres Bruders nur zu gut. Wenn seine Augen dieses leicht Gehetzte trugen, das nur sie imstande war wahrzunehmen, dann war es dringend. Und er würde nicht zur Ruhe finden, ehe er mit ihr gesprochen hatte.
Je älter sie geworden waren, desto ernsthafter wurde diese Eigenart an Jakob. Damals noch, als Kinder, ging es stets um die neuesten Filme oder Bücher, von denen er seiner Schwester berichten wollte. Larissa erinnerte sich noch genau, wie es gewesen war, als er ihr dieses dicke, rote, große Buch auf dem Flohmarkt zeigte und sagte, das müssen wir kaufen . Es handelte von einem Clown, der die Kinder einer Kleinstadt tötete, und einer Gruppe von Teenagern, die sich ihm entgegen stellte. Erst als sie das Buch beide gelesen hatten, sahen sie die Verfilmung. Auch hier war sein Blick wieder derselbe gewesen. Dringend, zwanghaft, du musst hören, was ich zu sagen habe, Larissa. Davon hängt mein weiteres Wohl ab.
Als die einzigen Raucher unter ihnen, das rauchende Geschwisterpaar, wie lustig, stellte es auch keine Mühe dar, auf dem Rastplatz eine entferntere Stelle zu finden, an der sie alleine waren. Madlen war mit Martin, der den BMW fuhr, und seiner Schwester Sarah im Inneren der Raststätte verschwunden.
»Was ist los?«, fragte Larissa, als sie ihre ersten Züge genommen hatte. Das Schweigen ihres Bruders kam ihr seltsamer vor als sonst. Vielleicht lag vor ihnen das erste ernsthafte Gespräch seit der Erkrankung ihrer Mutter.
»Madlen«, sagte er.
»Was ist mit ihr?«
Larissa wusste von Franziska. Von Jakobs heimlicher Schwärmerei und dass er sich eigentlich dafür schämte, auch wenn er es nie zugegeben hätte. Es war ihm unangenehm. Er war doch ein netter Kerl, wie Madlens Mutter gerne betonte. Und diese Gedanken an eine andere Frau, sie waren ihm bisher fremd gewesen. Es war nicht so, als ob Larissa niemals an andere Männer gedacht hätte, wenn sie mit Martin intim wurde, aber es gab niemand Konkretes. Keine Person, auf die sie unerfüllte Wünsche projizieren konnte oder wollte. Doch in der Beziehung ihres Bruders fehlte etwas. Das war ihr schon immer bewusst gewesen. Franziska erschien als ein Ausweg, von dem er aber nicht wusste, dass er ihn brauchte. Ach, manchmal störte es sie, die Intelligentere von beiden zu sein. Sie hätte beinahe gelacht, als Jakob endlich antwortete:
»Sie ist vielleicht schwanger.«
Larissa schlug ihm gegen die Schulter, stärker als sie es sonst tat. Verdammt nochmal, wie konnte er? In weniger als einer Sekunde zogen vor ihrem geistigen Auge Szenen vorbei. Wie ihr Bruder in einem Sumpf aus Alltäglichkeiten unterging. Zwanzig Jahre in der Zukunft und er würde ein Wrack sein. Ein Kind mit Madlen? So gerne sie sie auch mochte – Himmel, sie waren seit der Grundschule befreundet – sie war definitiv die Falsche für Jakob. Aber jetzt war bestimmt nicht der richtige Zeitpunkt, um dieses alte Streitthema aufzubringen.
»Kannst du nicht aufpassen?«, fragte sie, zog an ihrer Zigarette, überlegte es sich und schlug ihm erneut gegen die Schulter. »Du Idiot«, fügte sie hinzu.
»Hey«, sagte er, »Au. Hey. Es steht doch noch gar nicht fest. Und ja, wir passen auf. Keine Ahnung. Madlen nimmt die Pille, weißt du doch.«
»Verdammt, Jakob, und jetzt?«
»Genau darum wollte ich mit dir reden.«
»Was soll ich dir sagen? Solange nichts feststeht, kann ich dir auch nichts sagen,
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