Cronin, Justin
der
Isolierzelle verbracht hatte, wo er Zero beobachtete, seiner Stimme lauschte
und den Geschichten zuhörte, die er erzählte. Er erinnerte sich an New York
City und an das Mädchen und all die andern danach, jede Nacht eine neue, an
das Gefühl der Dunkelheit, die ihn durchströmte, an das sanfte Glücksgefühl in
seinen Kiefern, wenn er auf sie herabstürzte. Er war Grey und Nicht-Grey, er
war Zero und Nicht-Zero, er war überall und nirgends. Er stand auf und trat an
die Glasscheibe. Es ist Zeit.
Es war komisch, dachte Grey. Nicht
ha-ha-komisch, sondern merkwürdig-komisch, die ganze Vorstellung von Zeit. Sie war keine Linie, sondern ein Kreis, und nicht einmal
das: Sie war ein Kreis, der aus Kreisen bestand, die aus Kreisen bestanden,
und jeder lag über dem andern, sodass jeder Augenblick mit anderen verbunden
war; alles geschah zugleich. Und wenn man das einmal wusste, konnte man dieses
Wissen nicht mehr abschaffen. So wie jetzt, als er Ereignisse sehen konnte, wie
sie sich gleich entwickeln würden, als wären sie schon geschehen, weil sie ja
in gewisser Weise auch schon geschehen waren.
Er öffnete die Luftschleuse. Sein Anzug hing
schlaff an der Wand. Er musste die erste Tür schließen, um die zweite zu
öffnen, und er musste die zweite schließen, um die dritte zu öffnen, aber
nirgendwo stand geschrieben, dass er seinen Anzug tragen oder dass er allein
sein musste.
Die zweite Tür, Grey.
Er betrat die zweite Kammer. Über ihm hing der
Duschkopf wie die Blüte einer riesigen Blume. Die Kamera beobachtete ihn, aber
niemand saß am anderen Ende vor dem Monitor; das wusste er. Und er hörte jetzt
auch andere Stimmen, nicht nur Zeros, und er wusste auch, zu wem sie gehörten.
Die dritte Tür, Grey.
Oh, was für ein Glück, dachte er. Was für eine
Erleichterung. Dieses Loslassen. Dieses Ab- und Weglegen. Tag um Tag hatte er
gespürt, wie der gute Grey und der schlechte Grey sich zusammenfügten und etwas
Neues bildeten. Etwas Unausweichliches. Den nächsten neuen Grey, den, der
verzeihen konnte.
Ich verzeihe dir, Grey.
Er drehte den großen Türknauf. Die Sperre war
offen. Zero entfaltete sich vor ihm in der Dunkelheit. Grey fühlte Zeros Atem
auf dem Gesicht, auf seinen geschlossenen Augen, auf Mund und Kinn, und er
fühlte sein eigenes, hämmerndes Herz. Grey dachte an seinen Vater im Schnee. Er
weinte, weinte vor Glück, weinte vor Entsetzen, weinte weinte weinte, und als
Zeros Zähne die weiche Stelle an seinem Hals fanden, wo das Blut floss, wusste
er endlich, was das zehnte Kaninchen war. Das zehnte Kaninchen war er.
14
Es ging schnell. Zweiunddreißig Minuten, in
denen eine Welt zu Ende ging und eine neue geboren wurde.
»Was haben Sie da gesagt?«, fragte Richards, und
dann hörte er - sie beide hörten - den Alarm. Den Alarm, der niemals, niemals
ertönen sollte: ein mächtiges, atonales Brummen, das auf dem freien Gelände
hin und her hallte und von überall zugleich zu kommen schien.
Sicherheitsstörung im Probandentrakt auf Ebene
vier.
Richards drehte sich um und schaute zum Chalet
hinüber. Kurzentschlossen fuhr er wieder herum und richtete die Pistole dahin,
wo Doyle gerade noch gestanden hatte.
Doyle war verschwunden.
Verdammt, dachte er, und dann sprach er es aus:
»Verdammt!« Jetzt waren zwei außer Kontrolle. Rasch ließ er den Blick über den
Parkplatz wandern und hoffte auf eine Schussgelegenheit. Überall strahlten
Scheinwerfer auf und überfluteten das Gelände mit künstlichem grellem Licht.
Rufe hallten von den Baracken herüber, und Soldaten näherten sich im
Laufschritt.
Er hatte keine Zeit, sich jetzt um Doyle zu
kümmern.
Er rannte die Stufen zum Chalet hinauf, vorbei
an dem Wachtposten, der ihm etwas zubrüllte - etwas über den Aufzug -, und nahm
die Treppe zur Ebene zwei. Seine Füße berührten kaum die Stufen. Die Tür zu
seinem Büro stand offen, und sofort ging sein Blick zu den Monitoren.
Zeros Zelle war leer.
Babcocks Zelle war leer. Sämtliche Zellen waren
leer.
Er drückte auf den Knopf für die allgemeine
Sprechanlage. »Posten Ebene vier, hier Richards. Berichten Sie.« Nichts. Kein
Wort.
»Hauptlabor, berichten Sie. Kann mir jemand
sagen, was da unten los ist, verdammt?«
Dann hörte er eine verängstigte Stimme. Fortes?
»Sie haben sie rausgelassen!«
»Wer? Wer hat sie rausgelassen?«
Lautes Rauschen, und dann hörte Richards die
ersten Schreie aus dem Lautsprecher, Schüsse und weitere Schreie. So schrien
Männer, wenn sie
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