Cronin, Justin
paar Minuten vergingen. Amy bewegte sich
unruhig, als träume sie. Wolgast dachte plötzlich, wenn er ihren Traum sehen
könnte, würde er irgendwie wissen, was draußen vor sich ging. Doch darauf kam
es jetzt sowieso nicht mehr an. Sie waren tief unter der Erde, abgeriegelt von
der Außenwelt. Ebenso gut hätte man sie in ein Grab sperren können.
Wolgast hatte schon fast aufgegeben, als er
hinter sich das Zischen des Druckausgleichs hörte. Hoffnung flammte auf;
endlich kam Hilfe. Die Tür hinter ihm öffnete sich, und die Silhouette eines
Menschen war zu erkennen. Der Mann machte einen Schritt in den Raum hinein und
wurde jetzt von den beiden Notleuchten angestrahlt. Er trug keinen Schutzanzug.
Wolgast hatte ihn noch nie zuvor gesehen. Der Fremde hatte langes Haar, wild
und zerzaust und von grauen Strähnen durchzogen, und einen ungepflegten, verfilzten
Bart. Sein Laborkittel war zerknautscht und fleckig. Er blieb an Amys Bett
stehen, vom Schreck gelähmt wie jemand, der Opfer eines Unfalls oder Zeuge
einer schrecklichen Katastrophe geworden war. Wolgasts Anwesenheit hatte er
noch mit keiner Regung zur Kenntnis genommen.
»Sie weiß es«, sprach er leise vor sich hin, den
Blick auf Amy gerichtet. »Woher weiß sie es?«
»Wer sind Sie?«, fragte Wolgast. »Was ist hier
los?«
Der Mann schien ihn noch immer nicht zu hören.
Er strahlte etwas Unheimliches aus, eine überaus befremdliche Ruhe. »Es ist
seltsam«, sagte er nach einer Weile und stieß einen tiefen Seufzer aus. Er
fasste sich an den Bart, und dann ließ er den Blick über den nackten Raum
schweifen. »Das alles. Ist es das ... was ich wollte? Ich wollte, dass es einen gibt, wissen Sie. Als ich gesehen habe, als ich wusste, was
sie vorhatten, wollte ich, dass es wenigstens einen gibt.«
»Einen was? Was ist mit Sykes passiert?«, fragte
Wolgast.
Endlich schien der Fremde Notiz von ihm zu
nehmen.
Er sah Wolgast erst prüfend, dann finster an.
»Sykes? Oh, der ist tot. Ich glaube, alle sind tot. Meinen Sie nicht auch?«
»Inwiefern tot?«
»Tot, hinüber, zerfetzt höchstwahrscheinlich.
Die, die Glück hatten, jedenfalls.« Er schüttelte ungläubig den Kopf, ganz
langsam. »Das hätten Sie sehen sollen, wie die von den Bäumen runtergeschossen
kamen. Wie Fledermäuse. So was hätten wir vorhersehen müssen.«
Wolgast verstand überhaupt nichts mehr. »Bitte.
Ich habe keine Ahnung ... wovon Sie reden.«
Der Fremde zuckte mit den Achseln. »Nun, Sie
werden schon noch dahinterkommen. Früher, als Ihnen lieb ist. Tut mir leid.« Er
sah Wolgast an. »Sie müssen mich entschuldigen, Agent Wolgast. Meine Manieren.
Es ist schon eine Weile her bei mir. Ich bin Jonas Lear.« Er lächelte verzagt.
»Der Leiter des Projekts. Oder auch nicht. Unter den gegebenen Umständen würde
ich eher sagen, hier leitet niemand mehr etwas.«
Lear. Der Name sagte Wolgast nichts. »Ich habe
eine Explosion gehört ...«
»Ja, ganz recht«, unterbrach Lear ihn. »Das
dürfte der Aufzug gewesen sein. Ich möchte annehmen, das war einer der
Soldaten. Aber ich hatte mich in der Kühlkammer im Labor eingeschlossen,
deshalb habe ich nichts davon mitgekriegt.« Lear seufzte schwer und sah sich
noch einmal in dem kleinen Raum um. »Nicht gerade ein Augenblick grandiosen
Heldentums, nicht wahr, Agent Wolgast? Dass ich mich in der Kühlkammer
verkrochen habe? Wissen Sie, ich wünschte wirklich, es gäbe hier noch einen
Stuhl. Ich würde mich gern hinsetzen. Ich weiß nicht, wie lange es her ist,
dass ich gesessen habe.«
Wolgast sprang auf. »Nehmen Sie meinen.
Herrgott, bitte sagen Sie mir, was los ist.«
Aber Lear schüttelte den Kopf. Sein fettiges
Haar schwang hin und her. »Dazu ist keine Zeit, fürchte ich. Wir müssen gehen.
Es ist alles vorbei, nicht wahr, Amy?« Er schaute auf die schlafende Gestalt
hinunter und berührte sanft die verbundene Hand. »Endlich vorbei.«
»Was ist vorbei?«, fragte
Wolgast verzweifelt.
Als Lear den Kopf hob, sah er, dass der Mann
Tränen in den Augen hatte. »Alles«, sagte er.
Lear führte sie den Korridor hinunter. Wolgast
trug Amy auf dem Arm. Brandgeruch hing in der Luft, wie von geschmolzenem
Plastik. Als sie um die Ecke vor dem Aufzug bogen, sah Wolgast die erste
Leiche.
Es war Fortes. Viel war nicht von ihm übrig. Sein
Körper sah verschmiert aus, als habe etwas Riesiges ihn niedergeschlagen und
über den Boden geschleift. Blutpfützen glitzerten im flimmernden Licht der
Notbeleuchtung. Ein Stück weiter lag noch einer. Es
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