Cronin, Justin
Schreibtisch verkrochen, gewartet, seit die
Schießerei angefangen hatte. Hatte auf Lacey gewartet. Er stand auf.
»Wissen Sie, wo sie sind?«
Lacey zögerte. Sie hatte Schrammen im Gesicht
und am Hals und Blattfetzen im Haar. Sie nickte. »Ja.«
»Ich ... habe Sie gehört«, sagte Doyle. »All die
Wochen hindurch.« Eine Schleuse brach in ihm auf, als er sie sah. Seine Stimme
klang tränenerstickt. »Ich weiß nicht, wie ich das konnte.«
Sie nahm seine Hand. »Das war nicht ich, die Sie
gehört haben, Agent Doyle.«
Zumindest konnte Wolgast nicht nach unten
schauen. Er schwitzte jetzt heftig, und seine Handflächen und Finger waren
glitschig, wenn er die Sprossen umklammerte, um sich hochzuziehen. Seine Arme
zitterten vor Anstrengung, und die Ellenbeugen, die er um die Sprossen hakte,
wenn er die Hände wechselte, fühlten sich an, als seien sie bis auf die Knochen
wundgescheuert. Er wusste, es gab einen Augenblick, da der Körper einfach
seine Grenzen erreichte, eine unsichtbare Linie, hinter die man nicht mehr
zurückkonnte, wenn man sie einmal überschritten hatte. Er schob diese Gedanken
beiseite und kletterte weiter.
Amys Arme, in seinem Nacken verschränkt, ließen
nicht locker. Zusammen stiegen sie weiter, eine Sprosse nach der andern.
Der Ventilator war jetzt nicht mehr so weit weg.
Wolgast spürte einen leisen Lufthauch auf seinem Gesicht, kühl und vom Duft
der Nacht erfüllt. Er reckte den Hals und suchte die Wände des Schachts nach einer
Öffnung ab.
Er entdeckte eine, drei Meter über ihnen, neben
der Leiter: ein offener Seitenkanal.
Er würde Amy zuerst hineinschieben müssen.
Irgendwie würde er sein eigenes Gewicht und ihres auf der Leiter balancieren
müssen, während er sie zur Seite schwenkte und in die Öffnung schob, und dann
müsste er selbst hineinklettern.
Sie hatten die Öffnung erreicht. Bis zum
Ventilator war es weiter, als er gedacht hatte. Noch einmal mindestens zehn
Meter. Er schätzte, dass sie irgendwo in Höhe des Erdgeschosses des Chalets
waren. Vielleicht sollte er noch höher klettern und einen anderen Ausgang
suchen. Aber seine Kräfte waren fast erschöpft. Er brachte sein rechtes Knie in
Stellung, damit es Amys Gewicht aufnehmen konnte, und streckte die linke Hand
aus. Seine Fingerspitzen berührten eine konturlose Wand aus kühlem Metall,
glatt wie Glas, aber dann fand er die Kante. Er zog die Hand zurück. Noch drei
Sprossen, das dürfte genügen. Er atmete tief durch und stieg weiter, bis die
Öffnung in Höhe seiner Füße lag.
»Amy«, keuchte er. Sein Mund und seine Kehle
waren knochentrocken. »Wach auf. Du musst versuchen, aufzuwachen, Kleines.«
Er spürte, wie ihr Atem an seinem Hals sich
veränderte, als sie sich bemühte, zu sich zu kommen.
»Amy, du musst mich loslassen, wenn ich es dir
sage. Ich werde dich festhalten. Da ist eine Öffnung in der Wand. Du musst
versuchen, die Füße hineinzuschieben.«
Das Mädchen antwortete nicht. Hoffentlich hatte
sie ihn gehört. Er versuchte sich vorzustellen, wie das alles genau
funktionieren sollte - wie er erst sie und dann sich selbst in diesen
Seitentunnel zwängen sollte. Aber ihm lief die Zeit davon. Wenn er noch länger
wartete, würde er überhaupt keine Kraft mehr haben.
Jetzt.
Er zog das Knie an und hob Amy hoch. Ihre Arme
lösten sich von seinem Nacken, und mit seiner freien Hand packte er sie beim
Handgelenk, sodass sie wie ein Pendel über der Röhre hing, und dann sah er,
wie es gehen würde: Seine andere Hand ließ die Leiter los, ihr Gewicht zog ihn
nach links, der Öffnung entgegen, und dann waren ihre Füße drinnen, und sie
rutschte in die Öffnung.
Er glitt immer mehr nach unten. Unaufhaltsam.
Seine Füße verloren den Kontakt mit der Leiter, seine Hände scharrten hektisch
an der Wand entlang, seine Finger fanden schließlich die Kante der
Seitenöffnung. Ein feiner Metallgrat schnitt sich in seine Haut.
»Hoaa!«, schrie er, und seine Stimme hallte
durch das Rohr nach unten. Seine Füße baumelten ins Leere. »Hooaaa!«
Er hätte nicht sagen können, wie er es schaffte.
Adrenalin. Amy. Weil er nach allem, was passiert war, einfach noch nicht
sterben wollte. Mit aller Kraft zog er sich hoch, seine Ellenbogen krümmten
sich langsam und brachten ihn unerbittlich nach oben - erst den Kopf, dann die
Brust, dann die Taille, und schließlich glitt er vollends in den Tunnel.
Einen Augenblick lang blieb er still liegen und
rang nach Luft. Dann hob er den Kopf und sah Licht vor sich,
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