Cronin, Justin
reichlich
Gelegenheit hatte, mit der Armbrust auf den Sweetspot, den idealen Punkt unter
dem Brustbein, zu schießen oder, wenn das nicht gelang, sein Messer zu
benutzen. Nur selten schaffte ein Viral es, das Netz zu überwinden - Peter
hatte es in seinen fünf Jahren auf der Mauer nur ein einziges Mal gesehen -,
aber wenn es geschah, bedeutete es für den Wächter unweigerlich den Tod. Danach
war die Frage nur noch, wie geschwächt der Viral vom Scheinwerferlicht war,
wie lange die Wache brauchte, um ihn auszuschalten, und wie viele Leute sterben
mussten, bis das gelang.
In jener Nacht war der Schwarm geradewegs auf
Plattform sechs zugestürmt. Vielleicht hatten sie einfach nur Glück gehabt.
Vielleicht hatten sie aber auch bei ihren zwei Besuchen vorher die verborgene
Fuge unterhalb der Plattform entdeckt, einen Spalt von nicht mehr als einem
halben Zentimeter Breite, verursacht durch unvermeidliche Verschiebungen
zwischen den Steinen. Nur einer war ganz hinaufgekommen, ein weiblicher - ein
Detail, das Peter immer verwunderlich fand, da die Unterschiede zwischen den
Geschlechtern so gering waren und keinem Zweck dienten, weil die Virais sich
nach allem, was man wusste, nicht fortpflanzten. Sie war groß, mehr als zwei
Meter, und das Auffälligste an ihr war ihr dichtes weißes Haar. Ob dieses Haar
darauf hindeutete, dass sie erst im hohen Alter befallen worden war, oder ob es
Symptom einer biologischen Veränderung war, die sich in den Jahren seitdem
ereignet hatte - obwohl Virais eigentlich nicht alterten und als unsterblich
galten -, all das ließ sich nicht sagen. Peter hatte jedenfalls noch nie einen
Viral mit Haaren gesehen. Der weibliche Viral war zu der Fuge hinaufgesprungen,
die ungefähr zehn Meter über dem Boden verlief, und dann sofort unter die
Befestigung des Stahlnetzes weitergeklettert. Dort hatte sie sich von der Mauer
abgestossen und schnell den äußeren Rand des Gitters gepackt. Das alles hatte
höchstens zwei Sekunden gedauert. Sie hatte zwanzig Meter hoch über dem Boden
gehangen, die Beine angezogen und sich mit einer schnellen Schaukelbewegung
über das Stahlnetz geschwungen, sodass sie mit ihren Klauenfüßen am Rand der
Plattform landete. Arlo Wilson hatte ihr seine Armbrust ans Brustbein gedrückt
und ihr den Bolzen aus nächster Nähe mitten durch den Sweetspot gejagt.
Im Morgengrauen berichtete Arlo mit lebhafter
Freude am Detail, was passiert war, und Peter und die andern hörten zu. Wie
alle Wilsons liebte Arlo nichts so sehr wie eine gute Geschichte. Er war kein
Captain, aber er sah aus wie einer: ein großer Mann mit einem dichten Vollbart,
muskulösen Armen und einem jovialen Auftreten; ein Mann, der natürliche
Autorität besaß. Er hatte einen Zwillingsbruder namens Hollis, der ihm in jeder
Hinsicht glich wie ein Ei dem andern, nur dass er glattrasiert war. Arlos Frau
Leigh war eine Jaxon; sie war Peters und Theos Cousine, und so war Arlo auch
mit Peter verwandt. Manchmal, wenn er nicht Wache stand, saß Arlo abends im
Scheinwerferlicht auf dem Sonnenfleck und spielte Gitarre für die Leute, alte
Folksongs aus einem Buch, das die Erbauer hinterlassen hatten, oder er ging in
die Zuflucht und spielte für die Kinder, während sie sich bettfertig machten;
komische selbst ausgedachte Lieder über ein Schwein namens Edna, das sich gern
im Schlamm wälzte und den ganzen Tag Klee fraß. Jetzt, da Arlo selbst eine
Kleine in der Zuflucht hatte, ein quäkendes Bündel namens Dora, vermutete man
allgemein, dass er höchstens noch zwei Jahre auf der Mauer dienen würde, bevor
er seinen Posten aufgab und in einem weniger gefährlichen Job arbeitete.
Dass es Arlo war, der den Ruhm für diesen
Abschuss in Anspruch nehmen konnte, war Zufall, wie er selbst sofort
einräumte. Jeder von ihnen hätte auf Posten sechs stehen können. Soo schob ihre
Leute gern so oft hin und her, dass man niemals wusste, wo man abends stehen
würde. Trotzdem war mehr im Spiel als bloßes Glück; das wusste Peter, auch wenn
Arlo zu bescheiden war, um es auszusprechen. Mehr als ein Wächter war im
entscheidenden Augenblick erstarrt. Peter hatte noch nie aus solcher Nähe einen
Viral ausschalten müssen. Alle seine Abschüsse waren Döser gewesen, die er am
helllichten Tag erlegt hatte, und er wusste nicht, ob er einen solchen
Augenblick überstehen würde. Wenn also Glück im Spiel war, dann war es ein
Glück für sie alle, dass es Arlo Wilson war, der dort gestanden hatte.
Jetzt, im Nachglanz dieser Ereignisse,
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