Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Cronin, Justin

Cronin, Justin

Titel: Cronin, Justin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Der Uebergang
Vom Netzwerk:
standen,
zitterten und fingen an zu steigen.
    Er drehte sich zu Elton um, der scheinbar dösend
auf seinem Stuhl saß. Manchmal war das schwer zu erkennen. Ob er wach war oder
schlief, Eltons Augen sahen immer gleich aus: zwei schmale gelbe Puddingstreifen
spähten durch ständig tränenfeuchte Lider, die sich nie ganz schlossen. Seine
bleichen Hände lagen gefaltet auf der Wölbung seines Bauchs, und seine
Kopfhörer umklammerten den schorfigen Schädel und pumpten ihm die Musik in die
Ohren, die er die ganze Nacht hindurch hörte. The Beatles. Boyz-B-Ware. Art
Lundgren: Party-Hits (das Einzige, das Michael halbwegs gefiel).
    »Elton?« Keine Antwort. Michael sprach einen
Tick lauter. »Elton?«
    Der alte Mann - Elton war mindestens fünfzig -
erwachte erschrocken zum Leben. »Verdammt, Michael! Wie spät ist es?«
    »Keine Aufregung. Es ist Morgen. Wir haben
abgeschaltet.«
    Elton kippte auf seinem Stuhl nach vorne, dass
die Scharniere ächzten, und zog sich den Kopfhörer in den faltigen Nacken.
»Wieso weckst du mich dann? Gerade fing es an, gut zu werden.«
    Neben den CDs vertrieb sich Elton die Zeit
hauptsächlich mit sexuellen Abenteuerfantasien - Träume von längst toten
Frauen, deren Inhalt er Michael in erschöpfenden Einzelheiten schilderte, wobei
er behauptete, es seien tatsächlich Erinnerungen an Dinge, die er in jüngeren
Jahren erlebt hatte. Lauter Blödsinn, vermutete Michael, denn Elton verließ
kaum jemals das Lichthaus, und wenn Michael ihn so ansah mit seinen
schuppendurchsetzten Haaren, dem verfilzten Bart und den grauen Zähnen, in
denen die Überreste einer wahrscheinlich vor zwei Tagen eingenommenen Mahlzeit
steckten, konnte Michael sich nicht vorstellen, dass irgendetwas davon auch nur
annähernd möglich sein sollte.
    »Willst du's nicht hören?« Der alte Mann wackelte
vielsagend mit den Augenbrauen. »Es war der Traum mit dem Heu. Ich weiß, der gefällt
dir.«
    »Nicht jetzt, Elton. Ich ... ich habe was
gefunden. Ein Buch.«
    »Du weckst mich, weil du ein Buch gefunden
hast?«
    Michael rollte auf seinem Stuhl an der
Kontrolltafel entlang und legte dem alten Mann das Buch auf den Schoß. Elton
strich mit den Fingern über den Einband und verdrehte die blicklosen Augen nach
oben. Dann hob er es an die Nase und schnupperte daran.
    »Tja, sieht ganz nach dem Logbuch deines
Urgroßvaters aus. Fliegt seit Jahren hier herum.« Er gab es Michael zurück.
»Kann nicht behaupten, dass ich es gelesen hab. Steht was Gutes drin?«
    »Elton, was weißt du darüber?«
    »Kann ich nicht sagen. Aber manche Sachen
haben's an sich, dass sie genau dann auftauchen, wenn man sie braucht.«
    Jetzt begriff Michael, warum er das Buch noch
nicht gesehen hatte. Er hatte es nicht gesehen, weil es nicht da gewesen war.
    »Du hast es da hingestellt, stimmt's?«
    »Hör zu, Michael, Funkgeräte sind verboten. Das
weißt du.«
    »Elton, hast du mit Theo gesprochen?«
    »Mit welchem Theo?«
    Michael merkte, dass er wütend wurde. Wieso
konnte der Kerl eine Frage nicht einfach beantworten? »Elton ...«
    Der alte Mann hob die Hand und schnitt ihm das
Wort ab. »Okay, reg dich nicht auf. Nein, ich habe nicht mit Theo gesprochen.
Ich nehme aber an, du hast es getan. Ich habe mit niemandem gesprochen außer
mit dir.« Er machte eine kurze Pause. »Weißt du, du hast mehr Ähnlichkeit mit
deinem alten Herrn, als du glaubst, Michael. Er war auch kein guter Lügner.«
    Aus irgendeinem Grund war Michael nicht
überrascht. Er sackte auf seinem Stuhl zusammen, und im Grunde seines Herzens
war er froh.
    »Wie schlimm ist es?«, fragte Elton sanft.
    »Sieht nicht gut aus.« Michael zuckte die
Achseln und betrachtete seine Hände. »Nummer fünf ist am schlimmsten, zwei und
drei sind ein bisschen besser als die andern. Schwankende Ladung bei eins und
vier. Durchschnittlich achtundzwanzig Prozent heute Morgen, und niemals mehr
als fünfundfünfzig bei der Ersten Glocke.«
    Elton nickte. »Das heißt, Teilverdunklung in den
nächsten sechs Monaten, und Totalausfall innerhalb von dreißig. Mehr oder
weniger das, was dein Vater sich schon dachte.«
    »Er wusste es?«
    »Dein Vater konnte in diesen Akkus lesen wie in
einem Buch, Michael. Er hat es schon vor langer Zeit kommen sehen.«
    So war das also. Sein Vater hatte es gewusst,
und seine Mutter wahrscheinlich auch. Eine vertraute Panik erwachte. Er wollte
nicht darüber nachdenken. Er wollte es
nicht.
    »Michael?«
    Er atmete tief durch, um sich zu beruhigen. Ein
weiteres Geheimnis,

Weitere Kostenlose Bücher