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Cronin, Justin

Cronin, Justin

Titel: Cronin, Justin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Der Uebergang
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sie sich da angeschaut hatte (das blaugrüne Flackern, und
Daddys Stimme: Ida, stell das verdammte Ding ab, weißt
du nicht, dass man dabei verblödet?). Manchmal brachte
irgendetwas die Erinnerungen in Gang, ein Sonnenstrahl, der auf ein Blatt fiel,
ein Windhauch mit einem bestimmten Geruch, und dann durchwehten sie die
Gefühle, die Geister der Vergangenheit. Ein Herbsttag im Park, ein
Springbrunnen im Wind, das Nachmittagslicht, das die sprühenden Tropfen in
eine funkelnde Blume verwandelte. Ihre Freundin Sharise, die unten an der Ecke
wohnte; sie saß neben ihr auf der Treppe und zeigte ihr einen Zahn, der ihr
ausgefallen war, hielt den blutigen Stumpf in der flachen Fland, damit Auntie
ihn anschauen konnte ( Die Zahnfee gibt's
nicht, ich weiß schon, aber sie bringt mir immer einen Dollar.) Ihre
Mama in ihrem hellgrünen Lieblingssommerkleid, wie sie in der Küche die Wäsche
faltete, und die Duftwolke von einem Handtuch, das sie ausschlug und dann vor
der Brust zusammenlegte. Wenn so etwas geschah, würde es eine gute Nacht zum
Schreiben werden. Erinnerungen führten zu anderen Erinnerungen wie ein Flur mit
lauter Türen, durch den Aunties Geist wandern konnte, bis die Morgensonne durch
die Fenster hereinschien.
    Aber nicht heute Nacht, dachte Auntie, als sie
die Federspitze in den Tintenbecher tauchte und das Blatt Papier mit der Hand
glattstrich. Heute war keine Nacht für die Welt von früher. Heute wollte sie
über Peter schreiben. Sie rechnete damit, dass er gleich kommen würde, dieser
Junge mit den Sternen in sich.
    Die Dinge kamen ihr auf ganz eigene Art in den
Sinn. Vermutlich, dachte sie, lag es daran, dass sie so lange gelebt hatte -
als wäre sie selbst ein Buch, ein Buch aus lauter Jahren. Sie erinnerte sich an
die Nacht, als Prudence Jaxon vor der Tür gestanden hatte. Die Frau war schwerkrank;
der Krebs weit fortgeschritten. Sie stand vor der Tür und drückte den Karton an
die Brust, zerbrechlich und mager, als könne der Wind sie wegwehen. Auntie
hatte es in ihrem Leben schon so oft gesehen, dieses Böse in den Knochen. Man
konnte nie etwas anderes tun als zuzuhören und zu tun, was der kranke Mensch
wollte, und das tat Auntie in jener Nacht auch für Prudence Jaxon. Sie nahm den
Karton und bewahrte ihn auf, und nicht einmal einen Monat später war die Frau
tot.
    Irgendwann wird der richtige Augenblick da sein. Das waren Prudence Jaxons Worte gewesen. Wahre Worte, denn
so war es mit allen Dingen. Alles im Leben kam zu seiner Zeit, wie ein Zug, den
man erwischen musste. Manchmal war es einfach; man brauchte nur einzusteigen,
der Zug war bequem und komfortabel und voller Leute, die einen in der
gedämpften Stille anlächelten, und ein Schaffner knipste die Fahrkarte und
zerzauste einem das Haar mit seiner großen Hand und sagte: Was
für ein hübsches kleines Mädchen du bist, und was für ein Glück die junge Lady
hat, dass sie mit ihrem Daddy so eine weite Reise mit der Eisenbahn machen darf.
Und man versank im traumhaft weichen Sitzpolster, trank Ginger Ale aus einer
Dose und sah zu, wie die Welt in magischer Stille draußen vor dem Fenster
vorbeizog, die Wolkenkratzer der City im klaren Herbstlicht, und dann die
Rückseiten der Häuser mit der flatternden Wäsche an den Leinen und ein
Bahnübergang mit einer Schranke, vor der ein Junge mit seinem Fahrrad stand und
winkte, und schließlich die Wälder und Felder und eine einsame Kuh, die Gras
fraß.
    Aber nicht über den Zug wollte sie schreiben,
sondern über Peter.
    (Wohin waren sie eigentlich gefahren?, überlegte
Auntie. Wohin waren sie mit der Eisenbahn gefahren, sie beide zusammen, sie und
ihr Daddy, Monroe Jaxon? Grandma und die Verwandten hatten sie besucht, fiel
ihr ein, an einem Ort namens »unten im Süden«. Peter und der Zug. Manchmal war
es ganz einfach, und dann wieder war es anders, überhaupt nicht einfach; die
Dinge des Lebens kamen brüllend herangerast, und nur mit Müh und Not konnte man
sie packen und festhalten. Das alte Leben war zu Ende, und der Zug brachte
einen in ein neues, und ehe man sich versah, stand man im Staub, und überall
waren Hubschrauber und Soldaten, und die einzige Erinnerung an die Familie war
das Bild, das man in seiner Manteltasche fand, das Bild, das die eigene Mutter
beim Abschied dort hineingeschoben hatte.
    Als Auntie hörte, wie es klopfte und wie die
Fliegentür klappernd auf- und wieder zuging, als der Besucher eintrat, hatte
sie mit ihrer dummen alten Heulerei schon fast wieder aufgehört.

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