Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Cronin, Justin

Cronin, Justin

Titel: Cronin, Justin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Der Uebergang
Vom Netzwerk:
zu sehen. Hier
war der Dienst am schlimmsten, am einsamsten, und hier, das wusste Jimmy, würde
Soo Ramirez heute Nacht sein.
     
    Zwar war das, was sie empfand, noch nichts
Konkreteres als ein namenloses Grauen, aber auch Soo war den ganzen Abend
voller Unruhe. Dieses unbestimmte Gefühl, dass irgendetwas nicht stimmte, wurde
allerdings überlagert von anderen, persönlicheren Gedanken - dem Groll und der
tiefen Enttäuschung, dass sie vom Posten des First Captain hatte zurücktreten
müssen. In den Stunden nach dem Hearing hatte sie festgestellt, dass ihr diese
Entwicklung letztlich entgegenkam - die Verantwortung forderte allmählich
ihren Tribut -, und irgendwann hätte sie ohnehin abtreten müssen. Aber eine
Entlassung war nicht der Abgang, den sie sich gewünscht hatte. Sie war
geradewegs nach Hause gegangen, hatte sich in die Küche gesetzt und zwei
Stunden lang geweint.
    Sie war dreiundvierzig Jahre alt und hatte
nichts mehr vor sich außer Nächten auf der Mauer und gelegentlichen,
pflichtschuldigen Mahlzeiten mit Cort, der es gut meinte, aber dem schon vor
tausend Jahren der Gesprächsstoff ausgegangen war, und so war die Wache alles,
was sie hatte. Cort war in den Stallungen wie immer, und einen kurzen Moment
lang wünschte sie, er wäre zu Hause, aber es war auch in Ordnung, dass er nicht
da war, denn sonst hätte er wahrscheinlich nur dagestanden mit diesem hilflosen
Gesicht und sich nicht zu helfen gewusst. (Drei tote Babys in ihrem Bauch -
drei! -, und selbst da hatte er nie gewusst, was er sagen sollte. Damals, vor
vielen Jahren.)
    Sie konnte niemandem die Schuld geben außer sich
selbst. Das war das Schlimmste. Diese blöden Bücher! Soo hatte sie im Gemeingut
gefunden, als sie ziellos in den Containern gestöbert hatte, in denen Walter
all das Zeug aufbewahrte, das niemand haben wollte. Es war alles nur wegen der
blöden Bücher! Denn kaum hatte sie das erste aufgeschlagen - der brüchige
Einband hatte geknistert, und sie hatte tatsächlich im Schneidersitz auf dem
Boden gesessen wie ein Kind im Morgenkreis -, hatte es sie erfasst wie ein
Strudel im Abfluss und sie aufgesogen. (»Ja, wenn das nicht Mr
Talbot Carver ist«, rief Charlene DeFleur aus, während sie in ihrem langen,
raschelnden Ballkleid die Treppe hinabschritt, die Augen in unverhohlenem
Schrecken weit aufgerissen angesichts des hochgewachsenen, breitschultrigen
Mannes, der da in der Halle stand, angetan mit einer staubigen Reithose, deren Stoff
sich straff um seine männliche Gestalt schmiegte. »Was haben Sie sich nur dabei
gedacht, herzukommen, wenn mein Vater nicht da ist?«) Die Ballschönheit von
Jordana Mixon. The Passionate Press, Irvington, New York 2014. Da war auch ein
Bild von der Autorin, innen auf der hinteren Umschlagseite: eine lächelnde Frau
mit langem dunklem Haar, die zurückgelehnt in einem Bett mit spitzenbesetzten
Kissen ruhte. Arme und Hals waren entblößt, und auf ihrem Kopf saß ein
eigentümliches, scheibenförmiges Hütchen, zu klein, um auch nur den Regen
abzuhalten.
    Als Walter Fisher neben ihr aufgetaucht war, war
Soo schon beim dritten Kapitel angelangt. Der Klang seiner Stimme war so
zudringlich gewesen, so anders als die Worte auf den Seiten des Buches, dass
sie tatsächlich zusammengezuckt war. Was Gutes dabei?, hatte Walter gefragt
und neugierig die Brauen hochgezogen. Scheint dich ja ziemlich zu interessieren.
Weil du es bist, hatte er dann gesagt, kann ich dir die ganze Kiste für ein
Achtel überlassen. Soo hätte feilschen sollen; denn Walter Fisher setzte den
Preis immer zu hoch an. Aber im Grunde ihres Herzens hatte sie die Bücher
längst gekauft. Okay, hatte sie gesagt und die Kiste aufgehoben. Abgemacht.
    Die Geliebte des Leutnants, Tochter des Südens,
Braut wider Willen, Gefahren der Liebe - noch nie im Leben
hatte Soo etwas Ähnliches gelesen. Wenn sie sich die Zeit Davor ausmalte, war
sie immer gleichbedeutend mit Maschinen gewesen - mit Autos und Motoren und
Fernsehgeräten und Küchenherden und anderen Apparaten aus Metall und Draht,
die sie in Banning gesehen hatte, ohne zu wissen, wozu sie gut waren.
Vermutlich war es auch eine Welt der Menschen gewesen, aller möglichen
Menschen, die Tag für Tag ihren Geschäften nachgingen. Aber weil diese Menschen
nicht mehr da waren und sie nur die kaputten Maschinen zurückgelassen hatten,
dachte Soo immer nur an die Maschinen.
    Die Welt, die sie zwischen den Deckeln dieser
Bücher fand, war erstaunlicherweise gar nicht so anders wie ihre

Weitere Kostenlose Bücher