Cronin, Justin
Sie hatte sich
geschworen, es bleiben zu lassen. Ida, hatte sie zu sich selbst gesagt, Schluss
damit. Vorbei ist vorbei. Aber nach all den Jahren wurde ihr immer noch schwer
ums Herz, wenn sie an ihre Mutter dachte, wie sie ihr das Bild in die Tasche
geschoben und gewusst hatte, wenn Ida es fände, wären sie beide schon tot.
»Auntie?«
Sie hatte Peter erwartet, Peter mit seinen
Fragen nach dem Mädchen, aber er war es nicht. Sie erkannte das Gesicht nicht,
das da verschwommen vor ihr schwebte. Ein gequetschtes, schmales
Männergesicht, das aussah, als hätte es in einer Tür geklemmt.
»Ich bin's, Jimmy, Auntie. Jimmy
Molyneau.«
Jimmy Molyneau? Das konnte nicht stimmen. War
Jimmy Molyneau nicht tot?
»Auntie, du weinst ja.«
»Natürlich weine ich. Hab was ins Auge gekriegt.«
Er hatte sich ihr gegenüber auf den Stuhl sinken
lassen. Als sie die richtige Brille an den Kordeln um ihren Hals gefunden
hatte, sah sie, dass er wirklich, wie er behauptete, ein Molyneau war. Diese
Nase - das war eine Molyneau-Nase.
»Was willst du denn? Du kommst wegen dem
Walker?«
»Du weißt davon, Auntie?«
»Heute Morgen kam ein Läufer durch. Sagte, sie
hätten ein Mädchen gefunden.«
Ihr war nicht ganz klar, was er eigentlich
wollte. Er wirkte irgendwie traurig, ja mutlos. Normalerweise wäre ihr ein
bisschen Gesellschaft ganz willkommen gewesen, aber als das Schweigen sich in
die Länge zog und dieser fremde, missmutige Mann, an den sie sich nur vage
erinnern konnte, einfach nur vor ihr hockte wie ein geprügelter Hund, wurde sie
allmählich ungeduldig. Einer, der nichts wollte, sollte nicht einfach irgendwo
hereinplatzen.
»Ich weiß eigentlich gar nicht, warum ich
gekommen bin. Ich glaube, ich sollte dir etwas sagen.« Er seufzte tief und
rieb sich das Gesicht. »Eigentlich müsste ich auf der Mauer sein, weißt du.«
»Wenn du es sagst.«
»Na ja. Der First Captain gehört da eigentlich
hin, oder? Auf die Mauer?« Er sah sie nicht an; er starrte auf seine Hände und
schüttelte den Kopf, als wäre die Mauer vielleicht der letzte Ort auf Erden, an
dem er sein wollte. »Das ist ein Ding, was? First Captain. Ich.«
Dazu hatte Auntie nichts zu sagen. Was immer in
dem Mann vorging, es hatte nichts mit ihr zu tun. Manchmal konnte man etwas
Kaputtes nicht mit Worten reparieren, und das hier war anscheinend so ein Fall.
»Glaubst du, ich könnte eine Tasse Tee bekommen,
Auntie?«
»Wenn du willst, koche ich dir welchen.«
»Wenn es keine Umstände macht.«
Doch, es machte Umstände, aber sie kam wohl
nicht darum herum. Sie stemmte sich hoch und setzte den Teekessel auf. Die
ganze Zeit saß dieser Mann, Jimmy Molyneau, schweigend am Tisch und starrte auf
seine Hände. Als der Kessel zu summen anfing, goss sie den Tee durch das Sieb
in zwei Becher und brachte sie zum Tisch.
»Vorsicht. Er ist heiß.«
Er nippte vorsichtig daran. Anscheinend hatte er
überhaupt keine Lust mehr, zu reden. Genau besehen sollte es ihr recht sein.
Die Leute kamen ab und zu vorbei, um über Probleme zu reden, über private
Angelegenheiten. Vermutlich nahmen sie an, weil sie so allein hier wohnte,
hatte sie auch niemanden, dem sie es weitersagen könnte. Meistens waren es Frauen,
die über ihre Männer reden wollten, aber nicht immer. Vielleicht hatte dieser
Jimmy Molyneau ein Problem mit seiner Frau.
»Weißt du, was die Leute über deinen Tee sagen,
Auntie?« Stirnrunzelnd starrte er in seinen Becher, als schwimme die Antwort,
die er haben wollte, darin herum.
»Was denn?«
»Dass er der Grund ist, weshalb du so lange
lebst.«
Tiefes Schweigen machte sich breit. Er nahm
einen letzten Schluck Tee, verzog das Gesicht wegen des Geschmacks und stellte
den Becher auf den Tisch.
»Danke, Auntie.« Müde stand er auf. »Ich gehe
jetzt wohl besser. War nett, mit dir zu reden.«
»Schon in Ordnung.«
An der Tür blieb er stehen und legte eine Hand
an den Rahmen. »Ich bin Jimmy«, sagte er. »Jimmy Molyneau.«
»Ich weiß, wer du bist.«
»Für alle Fälle«, sagte er. »Falls jemand
fragt.«
Die Ereignisse, die mit Jimmys Besuch bei Auntie
begannen, sollten falsch in Erinnerung bleiben. Mit dem Namen fing es an. Die
Nacht der Klingen und der Sterne umfasste in Wahrheit drei Nächte und die zwei
Tage dazwischen. Aber wie immer bei solchen Begebenheiten - denen es bestimmt
ist, noch viele Jahre lang erzählt und wiedererzählt zu werden - schien die
Zeit komprimiert worden zu sein. Das ist an sich nichts Ungewöhnliches:
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