Cronin, Justin
ihm
nicht einfach?
»Geh schon, es ist in Ordnung.« Sie hob ihr
Strickzeug. »Ich bin hier, wenn du zurückkommst. Reit dort runter.«
»Hältst du mich wirklich für so dumm?«
Er funkelte sie an. Die eine Hand, seine Rechte,
lag auf der Messerklinge und zuckte kurz. »Das habe ich ... nicht gesagt.«
»Na, ich bin's jedenfalls nicht.«
Beide schwiegen für einen Moment. Seine Hand war
zu seinem Gürtel hochgewandert, gleich über dem Messergriff. »Galen?«, fragte
sie sanft. »Was tust du da?«
Die Frage schien ihn aus der Fassung zu bringen.
»Was meinst du?«
»Wie du mich ansiehst. Was du da mit der Hand
tust.«
Er schaute zu seinem Gürtel hinunter. Ein leises hmmm kam
aus seiner Kehle. »Ich weiß es nicht.« Er runzelte die Stirn. »Ich glaube, du
bringst mich dazu.«
»Werden sie dich nicht bei der Wache vermissen?
Müsstest du nicht dort sein?«
Sein Blick, dachte sie, war irgendwie seltsam
nach innen gerichtet, als nehme er sie kaum wahr. »Ich gehe wohl besser«, sagte
er.
Aber er machte immer noch keine Anstalten, zu
gehen. Auch seine Hand bewegte er nicht.
»Dann sehen wir uns also in ein paar Tagen«,
sagte Mausami.
»Was soll das heißen?«
»Du wolltest doch runter zum Kraftwerk reiten,
Galen. Hast du das nicht gerade gesagt?« Verständnis schimmerte in seinem
Blick. »Ja, morgen geht's los.«
»Dann pass auf dich auf, okay? Ich mein's ernst.
Augen überall.«
»Ja. Augen überall.«
Seine Schritte verhallten im Gang, und das
Geräusch wurde jäh gedämpft, als die Tür des Großen Saals sich hinter ihm
schloss. Erst jetzt merkte Mausami, dass sie eine der Stricknadeln aus den
Maschen gezogen hatte und fest mit der Faust umklammerte. Sie sah sich um; der
Raum wirkte plötzlich unendlich groß. Ein verlassener Ort ohne die Pritschen
und Gitterbettchen. Die Kleinen nicht mehr da.
Und dann spürte sie es, ein kaltes Beben, das
von innen kam: Etwas würde passieren.
Teil
VI
Die Nacht der Klingen und der Sterne
Wie Schatten wandelbar, wie Träume kurz,
Schnell wie der Blitz, der in geschwärzter Nacht
In einem Winke Himmel und Erd' entfaltet;
Doch eh' ein Mensch vermag zu sagen: »Schaut!«,
Schlingt gierig ihn die Finsternis hinab:
So schnell verdunkelt sich des Glückes Schein.
Shakespeare, Ein
Sommernachtstraum
35
Zweiundneunzig Jahre, acht Monate und
sechsundzwanzig Tage lang, seit der letzte Bus den Berg hinaufgefahren war,
hatten die Seelen der Ersten Kolonie so gelebt:
Unter den Scheinwerfern.
Unter dem Einen Gesetz.
Der Gewohnheit gehorchend.
Den Instinkten vertrauend.
Von-Tag-zu-Tag.
Sie selbst und diejenigen, die sie gezeugt
hatten, waren ihre einzige Gesellschaft. Sie lebten unter dem Schutz der Wache.
Unter dem Befehl des Haushalts. Ohne die Army. Ohne Erinnerung. Ohne die Welt.
Ohne die Sterne.
Für Auntie, die allein in ihrem Haus auf der
Lichtung lebte, begann die Nacht - die Nacht der Klingen und der Sterne - wie
so viele Nächte davor: Sie saß am Tisch ihrer dampfdunstigen Küche und schrieb
in ihr Buch. Am Nachmittag hatte sie einen Stoß Blätter von der Leine abgenommen,
steif von der Sonne - sie fühlten sich immer an wie viereckige Stücke von
eingefangenem Sonnenschein -, und die Zeit bis zum Abend damit verbracht, sie
zuzurichten: Sie hatte die Kanten auf ihrem Schneidebrett begradigt, den
Einband mit den Deckeln aus straffgespanntem Lammleder geöffnet und sorgfältig
die Fäden gelöst, mit denen die Seiten an ihrem Platz gehalten wurden, und mit
Nadel und Faden die neuen eingeheftet. Es war eine langwierige Arbeit, und als
sie fertig war, gingen draußen die Lichter an.
Komisch, dass alle dachten, sie habe nur dieses
eine Buch.
Der Band, an dem sie schrieb, war nach ihrer
Erinnerung der siebenundzwanzigste seiner Art. Immer wenn sie eine Schublade
öffnete oder Tassen in den Schrank stellte oder unter ihrem Bett fegte, fand
sie einen - so kam es ihr jedenfalls vor. Vermutlich lag es daran, wie sie die
Bände wegräumte, mal hierhin, mal dorthin, nicht säuberlich aufgereiht auf
einem Regal, wo sie auf sie herunterschauten. Jedes Mal, wenn sie ein Buch
fand, war es, als laufe sie einem alten Freund über den Weg.
Die meisten erzählten die gleichen Geschichten.
Geschichten, an die sie sich erinnerte, von der Welt und wie sie war. Von Zeit
zu Zeit kam ihr aus heiterem Himmel irgendeine Kleinigkeit zugeflogen, eine
Erinnerung, die sie lange vergessen hatte. Das Fernsehen zum Beispiel, und das
alberne Zeug, das
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