Cronin, Justin
Das
Gedächtnis neigt dazu, solch Geschehen nachträglich eine Kohärenz zu verleihen,
angefangen mit dem zeitlichen Rahmen. In dieser Jahreszeit. In jenem Jahr. In
der Nacht der Klingen und der Sterne.
Ferner verkompliziert wurde die ganze Sache dadurch,
dass die Geschichte jener Nacht des Sechsundfünfzigsten des Sommers, aus denen
sich dann der Rest ergab, im Grunde aus einer Reihe von Einzelgeschichten
bestand, die sich zeitlich überlappten. Überall geschah etwas. Zum Beispiel:
Während Old Chou aus dem Bett aufstand, das er mit seiner jungen Frau Constance
teilte, und von einem geheimnisvollen Drang getrieben zum Lagerhaus auf der
anderen Seite der Kolonie eilte, hatte Walter Fisher den gleichen Gedanken.
Doch der Umstand, dass er zu betrunken war, um sich die Stiefel zuzubinden,
sollte seinen Besuch im Lagerhaus und die Entdeckung dessen, was dort lag, um
vierundzwanzig Stunden verzögern. Miteinander gemeinsam hatten diese zwei
Männer, dass sie beide das Mädchen gesehen hatten, das Mädchen von Nirgendwo,
als der Haushalt am Abend zuvor das Krankenrevier aufgesucht hatte; es traf
allerdings auch zu, dass nicht alle, die ihr begegnet waren, die gleiche
Reaktion an den Tag legten. Dana Curtis zum Beispiel blieb davon völlig
unberührt, und Michael Fisher ebenfalls. Das Mädchen war selbst nicht die
Quelle, sondern der Kanal, der Weg, auf dem ein gewisses Gefühl - das Gefühl
verlorener Seelen - in die Köpfe der Empfänglichsten gelangte. Es gab andere,
wie etwa Alicia, die weder jetzt noch später davon berührt werden würden. Im
Gegensatz zu Sara Fisher und Peter Jaxon, die auf harmlose, aber nicht weniger
beunruhigende Weise Zeugen der Macht dieses Mädchens geworden waren: Beide
suchten sie Zwiesprache mit den Toten.
First Captain Jimmy Molyneau hatte sich an
diesem Abend noch nicht auf der Mauer blicken lassen, was bei der Wache zu
beträchtlicher Verwirrung geführt hatte, sodass man Sanjays Neffen Ian in
aller Hast zum zeitweilig stellvertretenden First Captain ernannte. Jimmy
lauerte derweil in der Dunkelheit vor seinem Haus am Rand der Lichtung und
versuchte zu entscheiden, ob er ins Lichthaus gehen, jeden dort töten und die
Scheinwerfer abschalten sollte oder nicht. Der Drang, diesen entscheidenden
letzten Schritt zu tun, war zwar schon den ganzen Tag über immer stärker
geworden, aber erst als er in Aunties dampfdunstiger Küche in seinen Tee
starrte, hatte der Gedanke in seinem Kopf konkrete Formen angenommen, und
hätte ihn jetzt jemand zufällig gesehen und gefragt, was er da mache, hätte er
wohl nicht gewusst, was er sagen sollte. Er hätte es nicht erklären können,
dieses Verlangen, das zugleich tief aus seinem Innern aufstieg und dennoch
nicht ganz sein eigenes zu sein schien. Im Haus schliefen seine Töchter Alice
und Avery und seine Frau Karen. Im Laufe seiner Ehe hatte es Zeiten gegeben,
etliche Jahre, in denen er Karen nicht so geliebt hatte, wie er es hätte tun
sollen (insgeheim war er verliebt in Soo Ramirez). Aber nie hatte er an ihrer
Liebe zu ihm gezweifelt: Sie erschien ihm grenzenlos und unerschütterlich, und
der Beweis dafür waren ihre beiden Mädchen, die ihrer Mutter wie aus dem
Gesicht geschnitten waren. Alice war elf, Avery neun. Angesichts ihrer sanften
Augen, ihrer zarten, herzförmigen Gesichter und ihrer lieben, melancholischen
Wesensart - beide brachen manchmal beim geringsten Anlass in Tränen aus -
spürte Jimmy immer die beruhigende Kraft des historischen Kontinuums. Und wenn
die Düsternis über ihn kam, wie sie es mitunter tat, eine dunkle Flut, die sich
anfühlte, als ertrinke er von innen heraus, dann war es immer der Gedanke an
seine Töchter, der ihn rettete.
Und doch, je länger er sich hier im Dunkeln
herumdrückte, desto mehr war es, als habe der Drang, die Scheinwerfer
auszuschalten, absolut nichts zu tun mit dem Gedanken an seine schlafende
Familie und sei deshalb von ihm auch nicht zu beeinflussen. Er fühlte sich
innerlich seltsam, sehr seltsam, als breche sein Sehvermögen zusammen. Er trat
aus dem Schatten des Hauses hervor, und als er am Fuße der Mauer angekommen war,
wusste er, was er zu tun hatte. Er empfand überwältigende Erleichterung, so
wohltuend wie ein heißes Bad, als er die Leiter zur Feuerplattform neun
hinaufstieg. Die Feuerplattform neun bezeichnete man auch als Soloposten: Wegen
ihrer Lage über dem Durchbruch in der Mauer, durch den die Hauptstromleitung
hereinführte, war sie von den benachbarten Plattformen aus nicht
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