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Cronin, Justin

Cronin, Justin

Titel: Cronin, Justin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Der Uebergang
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eigene. Die
Leute ritten auf Pferden und heizten ihre Häuser mit Holz und beleuchteten die
Zimmer mit Kerzen, und diese äußere Ähnlichkeit hatte sie überrascht und
zugleich ihr Herz für die Geschichten geöffnet, lauter glückliche Geschichten
über die Liebe. Auch Sex kam vor, jede Menge Sex, aber er hatte kein bisschen
Ähnlichkeit mit dem Sex, den sie mit Cort kannte. Er war feurig und
leidenschaftlich, und manchmal merkte sie, dass sie die Seiten hastig
überfliegen wollte, um zu einer dieser Szenen zu kommen. Aber das tat sie
nicht; sie wollte, dass es möglichst lange dauerte.
    Niemals hätte sie eins mit auf die Mauer nehmen
dürfen, aber sie hatte es getan in der Nacht, als das Mädchen erschien. Das
war ihr großer Fehler gewesen. Sie hatte es eigentlich nicht vorgehabt. Sie
hatte das Buch den ganzen Tag in ihrem Beutel mit sich herumgetragen und auf
eine freie Minute gehofft, und sie hatte vergessen, dass es da war. Na ja,
vielleicht nicht gerade vergessen - aber ganz sicher war es nicht ihre Absicht
gewesen, einen kurzen Besuch im Arsenal zu machen, wie sie es dann getan hatte.
Aber dort, wo niemand sie sehen konnte, hatte sie es allein und in aller Stille
herausgeholt und angefangen zu lesen. Das Buch war Die
Ballschönheit (sie hatte inzwischen alle Bücher gelesen
und wieder von vorn angefangen), und als sie den Anfang jetzt zum zweiten Mal
las - wie die ungestüme Charlene die Treppe herunterkam und den arroganten,
backenbärtigen Talbot Carver erblickte, den Gegenspieler ihres Vaters, den sie
liebte, aber auch hasste -, da empfand sie wieder jenes Prickeln, diesmal
jedoch noch stärker, denn sie wusste bereits, dass Charlene und Talbot am Ende
zueinanderfinden würden. Das war das Beste an den Geschichten: Sie gingen immer
gut aus.
    Das alles ging Soo durch den Kopf, als sie
vierundzwanzig Stunden später, nicht mehr im Rang des First Captain, aber noch
immer mit der Ballschönheit im
Beutel (warum konnte sie das verdammte Buch nicht einfach zu Hause lassen?)
Schritte hinter sich hörte. Als sie sich umdrehte, sah sie, wie Jimmy Molyneau
von der Leiter auf Feuerplattform neun trat. Natürlich war es Jimmy.
Wahrscheinlich wollte er sich an ihrem Unglück weiden oder sich entschuldigen
oder beides zugleich. Obwohl er besser den Mund halten sollte, dachte Soo
verbittert, nachdem er bei der Ersten Glocke nicht zum Dienst erschienen war.
    Jimmy?, sagte sie. Wo zum Teufel hast du
gesteckt?
     
    Die Nacht war voller Träume. In den Häusern und
in der Kaserne, in der Zuflucht und im Krankenrevier wanderten Träume durch die
schlafenden Seelen der Ersten Kolonie und senkten sich hier und da herab wie
umherschwebende Geister.
    Manche, wie Sanjay Patal, hatten einen geheimen
Traum, der sie schon ihr Leben lang verfolgt hatte. Manchmal wussten sie von
diesem Traum, manchmal nicht; der Traum war wie ein unterirdischer Fluss, der
unablässig strömte und ab und zu an die Oberfläche kam, um für kurze Zeit im
Tageslicht aufzuscheinen, als wandelten die Träumenden gleichzeitig in zwei
Welten. Manche träumten von einer Frau in ihrer Küche, aus deren Mund Rauch
herauskam. Andere, wie der Colonel, hatten von einem Mädchen im Dunkeln
geträumt. Manche dieser Träume wurden zu Alpträumen - woran Sanjay sich nicht
erinnerte und niemals erinnert hatte, war der Teil des Traums, in dem das
Messer vorkam -, und manchmal war der Traum überhaupt nicht wie ein Traum,
sondern realer als die Realität, und er ließ den Träumer hilflos in die Nacht
hinausstolpern.
    Woher kamen sie? Woraus bestanden sie? Waren es
Träume, oder war es mehr - die Andeutung einer verborgenen Realität, einer
unsichtbaren Ebene des Daseins, die sich nur in der Nacht offenbarte? Warum
meinte man, es seien Erinnerungen - und nicht nur das, sondern die Erinnerungen
eines anderen? Und warum schien in
dieser Nacht die gesamte Einwohnerschaft der Ersten Kolonie in dieser Traumwelt
zu versinken?
    In der Zuflucht träumte eine der drei »Jots«,
die kleine Jane Ramirez von einem Bären. Sie war die Tochter von Belle und Rey
Ramirez - desselben Rey Ramirez, der sich in diesem Moment am Elektrozaun zu
knisternder Asche verbrannte, nachdem er sich plötzlich beängstigend allein in
der Kraftwerksstation gefühlt und einem dunklen Verlangen nachgegeben hatte,
das er weder beschreiben noch zügeln konnte. Jane war gerade vier Jahre alt
geworden. Bären kannte sie aus Büchern und aus den Geschichten, die die
Lehrerin erzählte: große, freundliche

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