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Cronin, Justin

Cronin, Justin

Titel: Cronin, Justin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Der Uebergang
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Geschöpfe des Waldes mit pelzigem Wanst
und sanftem Gesicht, in denen eine gutmütige tierische Weisheit wohnte. Das
galt auch für den Bären in ihrem Traum, zumindest am Anfang. Jane hatte noch
nie einen echten Bären gesehen, aber einen Viral schon. Sie gehörte zu den
Kleinen in der Zuflucht, die den Viral Arlo Wilson mit eigenen Augen gesehen
hatten. Sie war aus ihrem Bettchen aufgestanden, das in der letzten Reihe
stand, am weitesten entfernt von der Tür - sie hatte Durst und wollte die
Lehrerin um einen Becher Wasser bitten -, als er unter dem ohrenbetäubenden
Krachen von Glas, Metall und Holz durch das Fenster hereingesprungen und
praktisch auf ihr gelandet war. Zuerst hatte sie ihn für einen Mann gehalten,
denn er sah aus wie ein Mann, genauso raumfüllend und präsent. Aber er trug
keine Kleider, und etwas war anders an ihm, vor allem an seinen Augen und
seinem Mund. Und er leuchtete. Er sah sie traurig an - sein trauriger Blick
hatte sie an einen Bären denken lassen -, und Jane wollte ihn fragen, was ihm
fehle und warum er so leuchte, aber da hörte sie hinter sich einen Schrei, und
die Lehrerin kam auf sie zugerannt. Wie eine Wolke zog sie über Jane hinweg
und ließ das Messer, das sie immer verborgen in einer Scheide unter den
wallenden Röcken trug, auf ihn nieder. Was als Nächstes kam, konnte Jane nicht
sehen - sie war hingefallen und kroch davon -, aber sie hörte einen leisen
Aufschrei und ein reißendes Geräusch und einen dumpfen Aufschlag. Dann wurde
wieder geschrien - »Hier drüben«, rief jemand, »ja, schau her!« -, und sie
hörte Gebrüll und Rufe und aufgeregte Erwachsene, Mütter und Väter, die hin
und her rannten, und ehe Jane sich versah, zerrte eine weinende Frau sie unter
ihrer Pritsche hervor und schleifte sie mit all den anderen Kleinen die Treppe
hinauf. (Erst später wurde ihr klar, dass diese Frau ihre Mutter war.)
    Niemand hatte ihr diese verwirrenden Ereignisse
erklärt, und Jane hatte auch niemandem erzählt, was sie gesehen hatte. Die
Lehrerin war nicht mehr da; ein paar Kinder, Fanny Chou und Bowow Greenberg und
Bart Fisher, verbreiteten tuschelnd, sie sei tot. Aber das glaubte Jane nicht.
Tot sein bedeutete, dass man sich hinlegte und für immer einschlief, und die
Frau, deren fliegenden Sprung sie gesehen hatte, war kein bisschen müde
gewesen. Im Gegenteil - in diesem Augenblick war die Lehrerin wundersam und
machtvoll lebendig gewesen, beseelt von einer Anmut und einer Kraft, die Jane
noch nie gesehen hatte.
    Janes Leben hier war fest geregelt. Die Zuflucht
bot Ordnung, Sicherheit und Routine. Natürlich gab es die üblichen
Streitereien und Kränkungen, und an manchen Tagen schien die Lehrerin von
morgens bis abends brummig zu sein. Aber im Allgemeinen war die Welt, die Jane
kannte, von einer Liebenswürdigkeit durchdrungen, die von der Lehrerin
ausging: Ihre Person strahlte eine mütterliche Wärme aus, wie die
Sonnenstrahlen Luft und Erde erwärmten. Jetzt, in den verwirrenden Nachwehen
der nächtlichen Ereignisse, spürte Jane, dass sie einen kurzen Augenblick lang
ins Innere dieser Frau geschaut hatte, die so selbstlos für sie gesorgt hatte.
    Sie hatte erkannt, dass es Liebe war, was sie
dort gesehen hatte. Es konnte nichts anderes als die Macht der Liebe sein, was
die Lehrerin da in die Höhe geschnellt hatte, in die wartenden Arme des
leuchtenden Bärenmannes. Er war ein Bärenprinz, der gekommen war, um sie in
sein Schloss im Wald zu holen. Und vielleicht war die Lehrerin jetzt dort, und
deshalb hatte man die Kleinen alle nach oben gebracht: damit sie dort auf sie
warteten. Wenn sie zurückkäme, wenn sie als Königin des Waldes gefeiert würde,
dann würde man sie alle wieder hinunter in den Schlafsaal bringen, um die
Lehrerin willkommen zu heißen und ein großes Fest zu feiern.
    Das waren die Geschichten, die Jane sich beim
Einschlafen erzählte, in einem Raum zusammen mit fünfzehn anderen Kindern, die
alle ihre eigenen Träume träumten. Janes Traum begann als Neufassung der vergangenen
Nacht; sie sprang im Großen Saal auf ihrem Bett herum, als sie den Bären
hereinkommen sah. Diesmal kam er aber nicht durch das Fenster, sondern durch
die Tür, die klein und weit weg war, und er sah anders aus als in der Nacht
davor, bärenhafter, dick und pelzig wie die Bären in den Büchern, und weise und
freundlich kam er auf allen vieren auf sie zu. Als er am Fußende ihres Bettes
angekommen war, hockte er sich auf die Hinterbeine und richtete sich langsam
auf,

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