Cronin, Justin
Wirklichkeit ein felsiger Steilhang,
unwegsam, aber gangbar. Amy war auf dem Serpentinenpfad vorausgelaufen. Er
atmete die eisige Luft tief ein, kämpfte seine Angst nieder und folgte ihr.
Der Pfad wurde schmaler und zog sich quer über
die Bergflanke. Links von ihm war blanker Fels, der im Mondlicht von Eis
glänzte. Rechts war Abgrund, ein schwarzes Nichts. Bloßes Hinschauen konnte
einen in die Tiefe reißen. Peter hielt den Blick geradeaus gerichtet. Die
beiden Frauen vor ihm bewegten sich schnell voran, zwei schattenhafte
Gestalten am Ende seines Gesichtsfelds. Wo brachte Lacey sie hin? Was war das
für eine Waffe, von der sie gesprochen hatte? Wieder hörte er tief unten die
Stimme des Flusses. Die Sterne funkelten hart und rein wie Eissplitter über
seinem Gesicht.
Hinter einer Wegbiegung blieb er stehen. Lacey
und Amy standen vor einer großen, röhrenartigen Öffnung in der Bergflanke. Das
Loch war so hoch wie er, ein schwarzer Schlund von undurchdringlicher Tiefe.
»Hier hinein«, sagte Lacey.
Zwei Schritte, drei Schritte, vier, und die
Dunkelheit umschloss ihn. Lacey führte sie in den Berg hinein. Peter dachte an
die Schachtel Streichhölzer in seiner Tasche. Er blieb stehen und versuchte,
eins anzureißen. Seine vor Kälte gefühllosen Finger waren ungeschickt, und als
die Flamme aufstrahlte, blies der wirbelnde Luftzug sie gleich wieder aus.
Von vorn kam Laceys Stimme. »Beeil dich, Peter.«
Zoll für Zoll schob er sich voran, und jeder
Schritt war ein Akt des Vertrauens. Dann spürte er den festen Druck einer Hand
auf seinem Arm. Amy.
»Halt.«
Er konnte nicht das Geringste sehen. Trotz der
Kälte hatte er unter seinem Parka angefangen zu schwitzen. Wo war Lacey? Er
hatte sich umgedreht und suchte nach der Eingangsöffnung, um sich zu orientieren,
als hinter ihm Metall kreischte. Er hörte, wie eine Tür sich öffnete.
Es wurde gleißend hell.
Sie befanden sich in einem langen Gang, der in
den Berg gehauen war. An den Wänden zogen sich Rohrleitungen und metallene
Kabel entlang. Lacey stand vor einem Hauptschalter an der Wand neben dem
Eingang. Hoch über ihnen summten Reihen von Leuchtstoffröhren.
»Hier gibt es Strom?«
»Akkus. Der Doktor hat mir gezeigt, wie sie
funktionieren.«
»Kein Akku kann so lange halten.«
»Die hier sind ... anders.«
Lacey schloss die schwere Tür hinter ihnen.
»Er nannte es Ebene fünf. Ich zeige es euch.
Bitte kommt.«
Der Gang führte zu einem größeren Raum. Lacey
tastete an der Wand entlang nach dem Lichtschalter. Durch die Sohlen seiner
nassen Stiefel spürte Peter ein Summen, ein unverkennbar mechanisches
Vibrieren.
Die Leuchtstoffröhren summten und erwachten
flackernd zum Leben.
Der Raum sah aus wie eine Art Krankenrevier. Ein
Hauch von Verlassenheit lag über allem - über der fahrbaren Trage und der
langgestreckten, hohen Theke mit den staubigen Gerätschaften, mit
Bunsenbrennern, Bechergläsern, altersblinden Chromschalen und einem Tablett mit
Injektionsspritzen, noch in ihrer Plastikverpackung. Auf einem langen, rostfleckigen
Stoffstreifen lag eine Reihe von stählernen Sonden und Skalpellen. Am hinteren
Ende des Raumes, in einem Nest aus Kabeln, stand etwas, das aussah wie ein
Stromspeicher.
Wenn ihr sie gefunden habt, bringt sie her.
Hierher, dachte Peter. Nicht bloß auf den Berg,
sondern hierher. In diesen Raum. Was war hier?
Lacey war zu einem Stahlkasten gegangen; er sah
aus wie ein Schrank und war an die Wand geschraubt. An der Vorderseite war ein
Griff und daneben ein Tastenfeld. Er sah zu, wie die Frau eine lange Zahlenreihe
eingab. Dann drehte sie den Griff, und man hörte, wie ein Getriebe
ineinandergriff.
Zuerst dachte er, der Schrank sei leer. Dann sah
er einen einzelnen Gegenstand im untersten Fach. Eine Kassette aus Metall.
Lacey nahm sie heraus und gab sie ihm.
Die Kassette war klein genug, um sie in einer
Hand zu halten, und sie war überraschend leicht. Er sah nirgends eine
Nahtstelle, aber da war ein Riegel und daneben ein kleiner Knopf, auf den sein
Daumen passte. Peter drückte darauf, und sofort sprang die Kassette auf und
teilte sich in zwei absolut identische Hälften. In einem Schaumstoffbett lagen
winzige Glasampullen in zwei Reihen. Sie enthielten eine grün schimmernde
Flüssigkeit. Peter zählte elf. Die zwölfte Mulde im Schaumstoff war leer.
»Das ist das letzte Virus«, sagte Lacey. »Das,
das er Amy gegeben hat. Er hat es aus ihrem Blut gemacht.«
Er suchte in ihrem Gesicht nach einer
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