Crossfire 1: Kontakt
seiner Stimme. Naomi… Jake
spielt darauf an, dass Naomi einfach so davongelaufen war. Sie hatte
drei andere Menschen in Gefahr gebracht. Und jetzt würde Naomi
wütend widersprechen, und das ganze schmerzhafte Ritual, das er
schon seit ihrer Kindheit kannte, würde erneut ablaufen. Sie
würde irgendetwas furchtbar Verletzendes sagen, und
anschließend, während man diese Wunde noch leckte und
versuchte, sich in Geduld und Verständnis zu üben,
würde sie bereits etwas noch Schmerzhafteres gefunden haben, das
sie in jene verletzbare Stellen rammen konnte, die jeder Mensch
hatte…
»Ich weiß, Jake«, sagte Naomi. »Paps, tut mir
Leid. War meine Schuld.«
Für einen Augenblick glaubte Shipley, er hätte sich
verhört. Aber ihr Gesicht, obwohl es immer noch trotzig wirkte,
mit zusammengekniffenen Lippen und zornig funkelnden Augen, zeigte
auch noch etwas anderes: Scham. Es tat ihr wirklich Leid.
»Na- Naomi…«
»Versuchen Sie nicht zu sprechen«, mahnte Jake.
»Das kann bis später warten. Naomi, du solltest jetzt
besser gehen. Wir bleiben bei ihm. Geh zu Karim und Lucy und
Franz.«
Um sich auch bei ihnen dafür zu entschuldigen, dass sie ihre
Leben ebenfalls für sie hatten riskieren müssen. Und
erstaunlicherweise stand Naomi auf und ging.
»Ich kann nicht… Doktor?«, sagte Gail. »Was
ist los?«
Ein plötzlicher Schmerz schoss den verletzten Arm hinauf, auf
das Herz zu… Shipley wartete, aber der Anfall klang ab, und das
Herz schlug weiter. Er flüsterte: »Erreger…«
»Ich weiß«, sagte Gail. »George sieht leider
keine Möglichkeit festzustellen, was Sie sich durch den Biss
zugezogen haben. Aber er meint, was uns auf Greentrees geschützt
hat, hilft Ihnen wahrscheinlich auch hier: Der Mikroorganismus, den
Sie sich eingefangen haben, kann sich mit Ihrer DNA nicht vermehren
und sich auch nicht von Ihren Zellen ernähren. Die Gene sind
einfach zu verschieden, selbst wenn sie ebenfalls auf DNA basieren.
Er sagt, wir können nur abwarten. Sie sollten schlafen, wenn Sie
können.«
Das tat er, wenn auch unruhig. Zwischen kurzen Phasen
schmerzgepeinigtem Schlafs wurde er immer wieder halb wach, und jedes
Mal waren Gail und Jake noch bei ihm. Sie unterhielten sich leise.
Vergingen nur wenige Minuten oder Stunden? Shipley konnte es nicht
sagen. Aber er hörte Teile ihres Gesprächs, die zwischen
den verworrenen Träumen zu ihm durchdrangen, Träume, in
denen die Kreatur aus dem Fluss und auf ihn zukroch, um ihre
Zähne in seinen Arm zu schlagen. Es war immer derselbe Traum,
wieder und wieder.
Gail sagte: »… glaube ich. Ist es von Dauer?«
»Ich denke schon«, erwiderte Jake.
»Aber warum jetzt? Sie hat ihn so lange gehasst, schon
seit…«
»Sie hat ihn nicht gehasst. Nicht wirklich, musst du wissen.
Du hast doch mitgekriegt, wie ihre harte Schale kurzfristig aufbrach,
als Beta starb und Shipley so mitgenommen war.«
»Meinetwegen, sie hasst ihn nicht. Aber dieser Zustand hat
nicht lange bei ihr angehalten. Warum sollte es diesmal anders
sein?«
»Weil sie etwas für ihn getan hat«,
erklärte Jake. Und dann: »Grundlegende Verhandlungstaktik,
Gail: Du bringst den anderen dazu, dir einen Gefallen zu tun. Dann
fühlt er sich dir zugetan und ist sehr viel eher bereit, dir
noch mehr zu geben. Es ist für uns ein schönes Gefühl,
wen wir anderen helfen können, vorausgesetzt wir fühlen uns
nicht ausgenutzt. Aber wir fühlen uns nicht wohl, wenn andere uns helfen, weil wir ihnen dann verpflichtet sind. Nan hatte
endlich die Gelegenheit, ihrem Vater etwas zu geben. Etwas
Bedeutsames.«
Das war es also, dachte Shipley, ehe er wieder einschlummerte. All
diese furchtbaren Jahre, und er hatte es nicht erkannt, hatte es
nicht verstanden…
»Er schläft immer noch«, sagte Gail. Aber das tat
er nicht, denn er hörte deutlich die eiligen Schritte auf dem
Steinboden der Hütte. Und er hörte die aufgeregte
jugendliche Stimme von Karim Mahjoub.
»Jake! Du kommst besser raus! Ein Flugkörper ist auf dem
Weg hierher.«
25. KAPITEL
Also war es so weit. Jake verließ die Hütte festen
Schrittes hinter Karim. Der wies auf das Bergplateau hinter der
Hütte – es sah zu trostlos aus, um es eine
»Wiese« zu nennen. »Vermutlich werden sie dort
landen.«
»In Ordnung. Sag Gail, sie soll alle in der Hütte
versammeln. Wir wollen sie nicht mit neun Menschen auf einmal
überrennen. Du und George, ihr bleibt bei mir.« Ein
Physiker, ein Biologe und… was war Jake? Anführer?
Unterhändler?
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