Crossfire 1: Kontakt
als Scheibe an einer Stange zu erkennen, und diese
Scheibe entfernte sich noch weiter von ihnen – oder besser
gesagt: Sie entfernten sich von ihr. Sobald er glaubte, dass
man ihn wieder hören konnte, fragte Shipley: »Wo ist
Naomi?«
»Bei den Pelzlingen. Es geht ihr gut, Doktor. Machen Sie sich
keine Sorgen.«
Bei den Pelzlingen. Keine Sorgen. Shipley legte die Hand
auf Gails Arm. Ein weiteres ohrenbetäubendes Krachen
ertönte aus der anderen Kammer. Gail wiederholte: »Ich
erkläre Ihnen alles, Doktor.«
Die Erklärung nahm einige Zeit in Anspruch. Als Gail fertig
war, strömten die Übrigen herein – und George brach
zusammen.
»George!«, rief Ingrid. »Doktor!«
George kam fast sofort wieder zu sich. Shipley befahl ihm, liegen
zu bleiben. Fachkundig tastete er mit den Händen über
seinen Brustkorb, fühlte den Puls und hob die Augenlider, um das
Weiße zu sehen. Dabei spürte Shipley, wie ein gewisses
Maß an Ruhe in ihn zurückkehrte. Was er hier tat, war
zumindest eine vertraute Tätigkeit.
»Es geht mir gut«, sagte George ungeduldig. »Ich
will aufstehen.«
»Dein Puls rast.«
»Ich habe ja auch gerade eine außerirdische QVV
zertrümmert!«
Vom Pilotensitz her rief Karim: »Bist du sicher, dass sie
zerstört ist?«
»Wie sollen wir das genau wissen?«, schnauzte Ingrid.
»Es ist außerirdische Technologie! Aber wir sind uns
ziemlich sicher, dass sie hinüber ist.«
»Jetzt bleibt nur noch die andere QVV«, sagte Jake.
»Karim, wie lange dauert es noch, bis wir die Umlaufbahn von
Greentrees erreichen?«
»Siebenundvierzig Hüpfer.«
Gail bemerkte den fragenden Ausdruck auf Shipleys Gesicht und
erklärte: »Karim hat sich diese Bezeichnung ausgedacht,
für die Einheiten, die mit dem Chronometer der Pelzlinge
gezählt werden. Die Ranken haben ihm beigebracht, die Symbole zu
lesen.«
»Es ist ein Sechsersystem«, fügte George hinzu.
Ȇberfordere ihn nicht mit irgendwelchem Zeug, das er
gar nicht wissen muss«, wandte Gail ein. »Und ich sollte
das auch nicht tun. Doktor, ich bringe Sie zu Nan, wenn Sie wollen.
Sie füttert die Pelzlinge. Sie ist die Einzige, die mit dem
unsichtbaren Schutzschirm umgehen kann.«
Shipley stand auf, aber im selben Augenblick kam Naomi aus einem
anderen Durchgang in den Raum. Bei ihrem Anblick, halb nackt und
narbig und verhungert, kam Shipley alles wieder in den Sinn, was auf
dem Schiff der Ranken geschehen war. Franz. Der Angriff auf Jake. Er
selbst, wie er Franz zum Stolpern brachte. Der Schleim, der das
Gesicht des Erneuerten zerfraß…
»Paps?«, sagte Naomi.
Gail meinte: »Doktor, setzen Sie sich. Sie sind
kreidebleich.«
»Ich möchte… möchte mit Naomi
sprechen.«
Die Übrigen traten taktvoll zurück. Naomi fasste ihn bei
der Hand und führte ihn durch einen weiteren schmalen Gang.
Außerhalb der Hör- und Sichtweite der Brücke setzte
sie sich auf den Boden und zog ihren Vater sanft zu sich nach
unten.
Für einen langen Augenblick sprach keiner von ihnen. Dann
begann Shipley: »Gail hat mir erzählt, was geschehen
ist.«
»Ja«, sagte Naomi. »Es war falsch. Es ist falsch.«
»Aber du kommst jetzt damit zurecht? Dass diese infizierten
Pelzlinge ihre Gleichgültigkeit auch auf ihrer Heimatwelt
verbreiten werden?«
»Ja«, antwortete Nan, aber sie wich seinem Blick
aus.
Shipley spürte, wie sich ihm der Magen umdrehte und nach oben
in seine Brust drängte. Sie log. Sie mochte Gail täuschen
können, aber nicht ihn. Naomi würde nicht mitmachen bei
etwas, was sie nach wie vor als Völkermord an einer
außerirdischen Rasse betrachtete. Und die Pelzlinge
schätzte sie immer noch am meisten von allen. Lag es daran, dass
sie die Ersten gewesen waren, mit denen sie sich angefreundet hatte?
Oder daran, dass sie wie Menschen auf DNA basierten? Oder war der
Grund dafür der, dass Naomi immer eine andere Meinung haben
musste als alle anderen? Das war es, wie sie sich selbst definierte:
als einsame Rebellin. Diese Definition war ihr wichtiger als alle
äußeren Wahrheiten. Ohne diese Definition hatte sie das
Gefühl, gar nichts zu sein.
War er etwa anders? Er hatte sich selbst als Neuen Quäker
definiert, das war das Herz und die Seele seines Daseins. Ohne das
wäre er ebenfalls nichts.
Sie sah ihn misstrauisch an. Um sie abzulenken, sagte Shipley:
»Ich habe Franz Müller umgebracht. Ich habe geschworen,
niemals zu töten, und ich habe es doch getan.«
»O Paps, du hast ihm doch nur zu Fall gebracht! Das war nicht
falsch! Die verfluchten
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