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Crossfire 1: Kontakt

Crossfire 1: Kontakt

Titel: Crossfire 1: Kontakt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nancy Kress
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Gewissen. Das waren die Lehren der
Neuen Quäker. »Die Wahrheit macht euch frei«,
hieß es in der Bibel. Und das stimmte: Die Wahrheit befreite
den Menschen von Täuschung, Sinnlosigkeit, Leere und
Ich-Bezogenheit. Die Wahrheit war das Beste in jedem Menschen, das
innere Licht, das sich zu reiner Freude ausweiten konnte. Die Neuen
Quäker hatten die Erde verlassen, weil es auf der Erde
anscheinend keine Kultur mehr gab, die nicht Lügen,
Äußerlichkeiten, Betrug, zweifelhaftem Ruhm und Zynismus
höher schätzte als die Wahrheit.
    Warum also fiel es ihm so schwer, die Wahrheit in seinem eigenen
Inneren zu hören?
    Die Ranken hatten bewusst darauf verzichtet, Menschen zu
töten, um den Tod eines der ihren zu rächen. Soweit Shipley
es beurteilen konnte, hatten sie jede Frage, die die Menschen ihnen
stellten, offen und ehrlich beantwortet. Sie hatten gezeigt – so
eindrucksvoll wie nur irgendein Quäker in der Geschichte der
Erde –, dass es möglich war, auf potentielle Angreifer mit
absoluter Gewaltlosigkeit erfolgreich einzuwirken und sie so zu
Verbündeten zu machen. Es war, als hätten die Ranken die
Worte gelesen, die George Fox vor sechshundert Jahren
niedergeschrieben hatte: »Beseitige die Anlässe für
einen Krieg.« Shipley konnte sich kein
aussagekräftigeres Bekenntnis zum Frieden vorstellen, als das,
wie sich diese merkwürdigen Außerirdischen den Menschen
gegenüber verhalten hatten.
    Und doch führten sie Krieg mit den Pelzlingen. Hatten die
Ranken den Pelzlingen nicht die gleiche Gewaltlosigkeit angeboten wie
den Menschen? Vielleicht hatten sie das, und die Pelzlinge waren
nicht darauf eingegangen und hatten ihre Angriffe nur noch
verstärkt. Wenn diese raumfahrenden Pelzlinge irgendwie jenen
glichen, die in der Nähe der Cheyenne lebten, dann wollte
Shipley das gern glauben.
    Eine wahrhaft gewaltlose Kultur hätte auf jede Art von
Gegenschlag verzichtet, selbst wenn es ihren Untergang bedeutet
hätte. Lieber tot, als dem Bösen anheim zu fallen. Aber
offensichtlich hatten die Ranken nicht auf diese Weise reagiert.
Stattdessen hatten sie DNA-Proben der Pelzlinge oder Embryos oder
etwas anderes auf diesen abgelegenen Planeten gebracht. Sie hatten
unterschiedliche Populationen von Pelzlingen gezüchtet und mit
ihnen experimentiert. Sie hatten lebende Wesen mit kaltblütiger
Gleichgültigkeit benutzt wie Franz Müller seinen ermordeten
Klon.
    Aber entsprach das wirklich den Tatsachen? Immerhin gingen diese
Überlegungen nur auf eine einzige Aussage der Ranken zurück
– wenn »Aussage« das richtige Wort war –, und das
nur in Verbindung mit den Theorien von George, Ingrid und Lucy.
    Auf der anderen Seite war es die einfachste Erklärung, die zu
den gegebenen Fakten passte.
    Einfach? Ein kontrollierter Versuch aus dem eugenischen
Gruselkabinett, durchgeführt von Pflanzen auf einem fremden
Planeten – war das die einfachste Erklärung?
    Shipley presste seine Hand auf die Brust. In letzter Zeit
spürte er häufig, wie sein Herz Schläge ausließ,
trotz des Schrittmachers. Vor sieben Jahren – vor siebzig Jahren
auf der Erde! – war das noch nicht so gewesen. Aber kein Organ
hielt ewig, egal, wie sehr man es schonte. Man konnte es
höchstens ersetzen, wie Franz Müller es getan hatte.
    Seine Gedanken drehten sich ziellos im Kreis. Also dachte er gar
nicht mehr und ließ die Stille der Nacht in sich ein.
Allmählich kam sein aufgewühlter Geist zur Ruhe. Shipley
saß lange still, bis seine Beine steif waren und er kurz vor
Sonnenaufgang seine eigene Wahrheit fand.
    Es war keine große Wahrheit. Kein strahlendes Licht, das die
Fragen über die Ranken, über die Pelzlingen, über
Naomi oder Franz erhellte. Aber Shipley war dankbar für diese
Wahrheit, weil sie ihm deutlich verriet, was er zu tun hatte. Es gab
keinen größeren Segen als die Gewissheit, das Richtige zu
tun.
    Es war richtig für ihn, mit den Ranken jede Siedlung der
Pelzlinge aufzusuchen. Er würde gebraucht werden. Er wusste
nicht wofür, aber er würde gebraucht werden. Seine Rolle in
diesem… was auch immer… war noch nicht vorbei.
    Im Einklang mit sich selbst kam Shipley schwerfällig wieder
auf die Beine. Er streckte sich und spürte, wie seine alten
Knochen knackten. Dann kehrte er zurück in das schlafende
Lager.

 
19. KAPITEL
     
     
    »Du bist ziemlich hart zu deinem Vater«, sagte Gail und
bedauerte ihre Worte sogleich. Nun würden es einen weiteren
Streit geben, und sie hatten bereits zwei in ebenso vielen Tagen
gehabt.

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