Crush Gier
Zimmer auf. Bestimmt waren die beiden Grace Wesleys Personenschutz.
»Meine Mädchen vergöttern ihren Onkel Wick«, sagte sie gerade. »Gäbe es ein Poster von ihm, dann hinge es bestimmt zwischen all den anderen Helden in ihrem Zimmer.«
»Erzählen Sie ihnen, dass ihr Onkel Wick bald wieder auf den Beinen ist.«
»Wir möchten uns gern bei Ihnen bedanken. Die Mädchen können es kaum erwarten, Sie kennen zu lernen.«
»Mich?«
»Ich habe den beiden von Ihnen erzählt. Danach habe ich gehört, wie sie sich unterhielten. Sie haben beide beschlossen, Ãrztin zu werden. Sie wollen Menschen retten, so wie Sie Wick gerettet haben.«
Rennie war so gerührt, dass ihr die Worte fehlten. Grace schien das zu spüren. Sie verabschiedete sich mit einem kurzen Gruà und ging, flankiert von ihren beiden Leibwächtern, zum Lift.
Als Rennie an den Schwesterntresen zurückkam, waren die roten Rosen verschwunden. Innerhalb des runden Tresens gab es mehrere Schreibtische, Computer, Ãberwachungsmonitore, Aktenschränke und jede Menge Krimskrams. Sie wusste nicht,
wo sie zu suchen beginnen sollte, und sah ganz offenkundig verloren aus.
»Kann ich Ihnen irgendwie helfen, Dr. Newton?«
»Ãh, ja.«
Mehrere Schubladen mussten aufgezogen werden, ehe eine Dose mit medizinischem Lippenfett zutage gefördert wurde. Rennie nahm sie mit an Wicks Bett. Er schlief immer noch, tief und gleichmäÃig atmend. Sie setzte sich auf den Stuhl an seinem Bett und wartete mindestens eine volle Minute, ehe sie die kleine Dose aufschraubte und ein angenehmer Duft mit einem Hauch von Vanille aufstieg.
Ihr war vorhin aufgefallen, dass Wicks Lippen trocken und gesprungen aussahen. Das war nach einer Operation und dem starken Flüssigkeitsverlust nicht ungewöhnlich. Im Gegenteil, es war sogar ganz normal. Doch Wicks Lippen hatten ungewöhnlich spröde ausgesehen. Darum war ihr der Gedanke gekommen, etwas Lippenbalsam aufzutragen. Was konnte daran falsch sein?
Und vor wem rechtfertigte sie sich eigentlich?
Sie strich mit der Fingerkuppe über die feste Salbe und zog mehrere kleine Kreise, bis das Fett durch die Reibung und ihre Körperwärme angewärmt und weich geworden war. Dann tupfte sie die Salbe erst auf seine Unter- und dann auf seine Oberlippe, wobei sie ihn kaum berührte und nur so kurz in Kontakt mit seiner Haut kam, dass es kaum zählte.
Als beide Lippen mit der duftenden Salbe benetzt waren, zog sie die Hand zurück. Zögerlich. Um anschlieÃend den Finger erneut auf seine Unterlippe zu legen, diesmal ohne gleich zurückzuzucken. Langsam verstrich sie die Salbe von einem Mundwinkel zum anderen und wieder zurück. Sie wiederholte den Vorgang an der Oberlippe, wobei sie exakt den maskulinen Konturen folgte und den Finger genau an der Lippenkante entlangführte, mühsam konzentriert wie ein Kind, das gescholten wird, wenn es über den Rand malt.
Und gerade als sie die Hand zurückziehen wollte, wachte er auf. Der Blickkontakt elektrisierte sie.
Keiner sagte etwas. Beide versteinerten, und ihr Zeigefinger verharrte auf dem Saum seiner Lippe. Rennie hielt den Atem an und merkte, dass auch sein Atem nicht mehr tief und gleichmäÃig ging. Sie hatte das unbedingte Gefühl, dass etwas geschehen würde, wenn sich einer von beiden bewegte. Etwas Bedeutsames. Was genau, wusste sie nicht. Jedenfalls wagte sie nicht, sich zu bewegen. Sie wusste auch nicht, ob sie dazu in der Lage gewesen wäre. Der Blick aus seinen blauen Augen wirkte lähmend auf sie.
In diesem schweigenden Stillleben verharrten sie ⦠wie lange wohl? Später konnte sie das nicht mehr einschätzen. Jedenfalls bis Wicks linkes Auge über dem Kissen zuglitt. Sie hörte tatsächlich, wie seine Wimpern über den Bezug strichen. Erst danach atmete sie wieder aus.
Erleichtert zog sie die Hand zurück, drehte unbeholfen die Salbendose wieder zu und stellte sie auf den Nachttisch. Ohne ihn noch einmal anzusehen, eilte sie aus dem Zimmer. »Rufen Sie mich an, wenn sich irgendwas ändert«, befahl sie barsch, als sie seine Akte an der Schwesterntheke abgab.
Am Lift hielt ihr der wachhabende Polizist die Tür auf und sprach sie schüchtern an: »Dr. Newton, ich wollte nur sagen⦠also, Wick ist wirklich ein Supertyp. Vor ein paar Jahren hat sich eines meiner Kinder verletzt. Wick war der Erste, der Blut gespendet hat.
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