Crush Gier
Kein Wunder, dachte er. Sie hatte einen langen Tag gehabt. Er wusste das. SchlieÃlich war er dabei gewesen, als er begonnen hatte.
5
Rennie lehnte an der Spüle und rollte die kühle Wasserflasche über ihre Stirn. Es war Jahre her, seit sie zum letzten Mal Atemübungen gebraucht hatte, um wieder zur Ruhe zu kommen. Jahre, aber sie hatte nie vergessen, wie grauenvoll es war, die Kontrolle zu verlieren.
In den vergangenen drei Wochen war ihr Leben völlig aus den Fugen geraten. Begonnen hatten die Auflösungserscheinungen in ihrem sorgfältig durchkomponierten Lebensrhythmus mit ihrer Berufung in die Geschworenenjury. Einen Tag nachdem sie den Brief bekommen hatte, hatten sie und einige andere Ãrzte, darunter auch Lee Howell, im Aufenthaltsraum zusammengesessen.
Irgendwer hatte vorgeschlagen, sie solle behaupten, sie habe minderjährige Kinder.
»Habe ich aber nicht.«
»Dann musst du eben für einen älteren Verwandten sorgen.«
»Muss ich aber nicht.«
»Dann bist du eben Studentin.«
Diesen Vorschlag hatte sie gar nicht erst zur Kenntnis genommen.
»Schmeià das blöde Ding doch weg und kümmere dich nicht weiter darum«, hatte ihr jemand geraten. »So hab ich es jedenfalls gemacht. Ich dachte mir, wenn ich nicht erscheinen muss, ist mir das ein BuÃgeld wert, ganz egal, wie hoch es ist.«
»Und was ist passiert?«
»Gar nichts. Niemand verfolgt diese Sachen weiter, Rennie. Jede Woche werden Hunderte von Aufforderungen rausgeschickt. Glaubst du wirklich, sie machen sich die Mühe, jeden ausfindig zu machen, der nicht auftaucht?«
»Ich wäre bestimmt die eine unter tausend. Mich würden sie ins Gefängnis werfen. Um mich allen, die sich um ihre Bürgerpflichten
drücken wollen, als abschreckendes Beispiel vorzuhalten.« Gedankenversunken zwirbelte sie den Strohhalm in ihrem Getränk. »AuÃerdem ist es genau das. Eine Bürgerpflicht.«
»Ich bitte dich«, stöhnte Lee, den Mund voller Kartoffelchips, die er aus dem Automaten gezogen hatte. »Vielleicht eine Bürgerpflicht für Leute, die nichts Besseres zu tun haben. Du könntest deine Arbeit anführen, um da rauszukommen.«
»Berufliche Nachteile sind kein Entschuldigungsgrund. Das steht fett gedruckt auf der Benachrichtigung. Ich fürchte, ich komme da nicht mehr raus.«
»Mach dir keine Sorgen«, sagte er. »Sie werden dich bestimmt nicht auswählen.«
»Mich würde es nicht überraschen, wenn sie es täten«, wandte ein anderer Kollege ein. »Mein Bruder ist Rechtsanwalt. Er sagt, er versucht immer, mindestens eine gut aussehende Frau in die Jury zu bringen.«
Rennie erwiderte sein Zwinkern mit einem vernichtenden Blick. »Und wenn ich es mit Anwältinnen zu tun habe?«
Sein Lächeln fiel in sich zusammen. »Daran habe ich gar nicht gedacht.«
»Natürlich nicht.«
Lee klopfte sich das Salz von den Händen. »Sie werden dich bestimmt nicht auswählen.«
»Na schön, Lee, warum nicht? Du kannst es kaum erwarten, mir zu erklären, warum ich nicht zur Geschworenen tauge, stimmtâs?«
Er zählte die Gründe an seinen schlanken Chirurgenfingern ab. »Du bist zu analytisch. Zu meinungsstark. Zu freimütig. Und zu dominant. Keine Partei wünscht sich eine Geschworene, die alle anderen umstimmen könnte.«
Diesen einen Streit hätte Lee ruhig gewinnen dürfen, wenn es nach Rennie gegangen wäre. Sie war aus achtundvierzig Kandidaten als zweite in die Jury aufgenommen und wenig später zur Sprecherin gewählt worden. Während der nächsten zehn Arbeitstage hatte der Staat Texas ihre gesamte Zeit in Anspruch genommen,
während sich im Krankenhaus die Papierberge auftürmten und ihre Patienten warten mussten.
Als die Verhandlung vorüber war, war ihre Erleichterung nur von kurzer Dauer gewesen. Der Staatsanwalt hatte seinen Ãrger über das Urteil in den Medien ausposaunt. Ebenso wenig Zustimmung hatte der Urteilsspruch seitens der Leute auf der StraÃe gefunden, zu denen sich ausnahmsweise auch Dr. Lee Howell zählte.
Bei der Party am Freitagabend hatte er seiner Meinung Luft gemacht. »Ich kann einfach nicht glauben, dass du diesen Galgenvogel vom Haken gelassen hast, Rennie. Das ist ein Berufsverbrecher.«
»Er wurde noch nie verurteilt«, hatte sie eingewandt. »AuÃerdem stand er nicht wegen irgendwelcher
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