Cruzifixus
Mammonarchen, Spekulanten und Schacherer. Sie sind wie nimmersatte Raupen, wie Heuschrecken, die in ihrer teuflischen Gier alles kahl fressen und fruchtbares Land in Wüsteneien verwandeln. Christus hat die Wechsler aus dem Tempel verjagt – doch siehe ihre Buden sind zu Banken, ihre Basare zu Börsen geworden, zu Wirkstätten des Satans!“
Die Zwanghaftigkeit mit der ein Feindbild heraufbeschworen, das Menetekel des Mammons an die Wand gemalt wurde, ließ Simon den Kopf schütteln:
„Es ist unsere heiligste Pflicht das Volk Gottes aus der Knechtschaft des Kapitals zu befreien. Die Gier nach Geld wirkt wie ein alles zersetzendes Gift. Und wer schürt den Wucher in der Welt?“
Die Frage war selbstredend eine rein rhetorische, denn es war Simon längst klar, worauf die Sache hinauslief:
„Es sind die Juden und Freimaurer, die neoliberalen Nabobs, die das letzte Stückchen Erde, welches dem ehrlichen Menschen noch geblieben, wegeskamotieren – ihm hohnlachend das letzte Hemd und die Hoffnung raubend.“
Simon klappte das Buch zu. Wieso hörten die „Propheten“ nicht auf Hass und Intoleranz zu predigen und die „Ungläubigen“ zu verdammen? Seinem Verständnis nach, widersprach dies diametral dem Geist des Evangeliums. Warum sollte Liebe und Lust Sünde sein? Warum sollte es nur einen Gott, eine Wahrheit geben? Um ihren Anhängern vorzugaukeln, dass sie „Auserwählte“ seien und das Leben nach dem Tod gepachtet hatten?
Simon ging es wie dem heiligen Thomas. Ihm fehlte der rechte Glaube. Es erschien ihm immer fragwürdiger, dass der „arme Bruder vom Berg“ oder die braunen Kutten-Kollaborateure auch nur das geringste mit dem Marter-Mord oder den Tod Dirrigls zu tun hatten. Er wünschte sich sehnlich die Kombinationsgabe Sherlock Holmes und die Spürnase Inspektor Columbos. Weshalb mussten Dirrigl und Paintinger sterben? In Gedanken ging Simon die landläufigen Motive der Reihe nach durch: Habgier, Neid, Machtkämpfe, Frauengeschichten. Welches Interesse sollte jemand daran haben, den Doyen und Seniorchef zu beseitigen, der nur noch im Hintergrund agierte und das operative Geschäft anderen überließ. Der Panther war längst nicht mehr der große Boss, der Padrino. In den letzten Jahren war er nur noch sporadisch in Erscheinung getreten, um seine ökologischen Projekte voranzutreiben – und zwar mit der ihm eigenen Energie und Chuzpe. In seinen Vorträgen und Präsentationen wurde er nicht müde vor den verheerenden Auswirkungen des Klimawandels auf die heimische Fauna und Flora zu warnen. Auf seine alten Tage war er zum Öko-Propheten und Naturapostel mutiert, der in Verwaltungs- und Stiftungsräten saß und das große, ökologische Wort führte. Wer also sollte in Paintinger eine ernst zu nehmende Bedrohung sehen? Oder ging es gar nicht um ihn? Hatte er die „Sünden“ eines anderen ausbaden müssen? Stellte sein Tod eine Warnung für einen Dritten dar? Und wer konnte jener ominöse „Dritte Mann“ sein? Der gemeinsame Unbekannte? Ein finsterer Dunkelmann? Ein „früherer Freund“, der zum geschworenen Feind geworden war? War Paintinger zwischen die Fronten geraten? War dem Panther seine Mitwisserschaft zum Verhängnis geworden? Um Antworten auf diese Fragen zu erhalten, musste Simon die Biographien nach schwarzen Flecken absuchen. Welche Schnittmengen gab es zwischen dem zum Paulus gewandelten Saulus, dem Karrierekleriker und dem fanatischen Mönchsbruder? Welches verborgene Geheimnis teilten die Drei? Simon schraubte die Kappe vom Eddingstift. Mit ungelenker Hand brachte er ein windschiefes Dreieck zu Papier, markierte die Eckpunkte mit den Namen: Paulus Paintinger, Dominikus Dirrigl, Frater Ägidius. In die Mitte des Dreiecks malte er ein großes X und ein kleineres Y – und versah das XY mit einem dicken Fragezeichen. Zwei Unbekannte in einem linearen Gleichungssystem - das war selbst für einem Einstein oder Gödel eine Nummer zu hoch. Simon wandte sich der Frage nach dem Phantombild des Opfers zu. Mit knappen, leidlich geraden Strichen zeichnete er eine Tabelle mit drei Spalten und übertrug sämtliche bekanten Fakten dorthin: Geburtsjahr, schulische Ausbildung, beruflicher Werdegang, private Aktivitäten, Vorlieben, Mitgliedschaften in Vereinen und Verbänden, Freund und Feind. Simon betrachtete den fertigen „Steckbrief“ mit der Miene eines Malers, dem die
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