Cruzifixus
Strichmännchen eines Miró oder Picasso nicht recht gelingen wollten. Es war ein verwirrendes Geflecht möglicher Kombinationen von x Elementen entstanden, das keine klaren Rückschlüsse auf Beziehungen zwischen den Opfern zuließ. Einige markante Berührungspunkte sprangen jedoch sofort ins Auge: Paintinger und Bruder Ägid waren der gleiche Jahrgang. Aus dem spärlichen Faktenmaterial ließ sich jedoch nicht erschließen, ob Sie sich näher gekannt hatten oder gar befreundet gewesen waren. Auch in den Lebensläufen des Fraters und des Dechanten kamen einige seltsame Kongruenzen zum Vorschein: beide waren Alumnen am Priesterseminar in Freising und danach einige Jahre in Rom gewesen – allerdings mit einem Abstand von über dreißig Jahren. Und so mochte es eigentlich nicht weiter verwundern, dass Beide in ideologischen Fragen völlig konträre Anschauungen vertraten. Ließ sich daraus ein Tatmotiv ableiten? Simon schaltete das Diktafon ein und unterzog sich selbst einem „Verhör“:
„Worum geht es? Um den Glauben? Oder um triviale Dinge wie illegale Geschäfte und schwarze Kassen? Welchen Part spielen persönliche Gefühle wie Rache oder Vergeltung?“
Simon betrachtete sein Spiegelbild in der Scheibe, sah wie sich die Büsche draußen unter den Böen bogen. Hatte er etwas übersehen? Hatte sich das Antlitz des Mörders wie das des Messias in ein Tuch, in einen Text geätzt?
„La Donna è mobile, qual piuma al vento!” Die Ohrwurm-Arie des Duca di Mantova wollte Simon nicht aus dem Kopf. Wer würde die Weiber je verstehen? In Verdi Veritas! Es war wahrlich nicht leicht den vollendeten Kavalier, den galanten Charmeur zu mimen. Vroni blickte mit einem unerforschlichen Mona Lisa-Lächeln zum Fenster hinaus, als ob es dort draußen in der Nebelnacht irgendetwas Interessantes zu entdecken gäbe. Simon wiegte eine bauchige Flasche in seinem Arm:
„Den musst du probieren! Ein gehaltvoller, im Duft vornehm zurückhaltender Weißer. Die Rebsorte nennt sich Neuburger. Eine alte, autochthone Traube, eine Kreuzung aus Weißburgunder und Sylvaner. Der Name kommt von den Augustinern in Klosterneuburg. Trimmt man die Rebstöcke durch rigorosen Grünschnitt auf niedrige Erträge und hohe Qualität, dann werden die Trauben richtig saftig und fruchtig. Trocken ausgebaut, entwickelt der Neuburger ein zartes, exquisites Aroma.“
Im Stile eines etwas begriffsstutzigen Sommeliers beschnüffelte er die dem Wein entströmenden Aromen:
„Feinwürziges, reifes Bukett!“
Er schenkte die langstieligen Gläser halb voll und ließ den blassgelben Rebsaft im Uhrzeigersinn herumkreisen:
„Ausgereifter, vollmundiger Geschmack mit schön eingebundener Säure. Breiter, vollmundiger Abgang.“
Vom Fenster her bemerkte Vroni spitz:
„Warst du auf einem Seminar für Weinschmecker?“
Simon biss sich auf die Lippen, fuhr jedoch mit der Gebärde eines Bordeaux-Beaus und im Jargon des Reb-Reporters fort:
„Der Önologe hat mir spontan die Weinberge und die Kellergasse gezeigt. Die kultivieren da ausschließlich einheimische Rebsorten wie Rivaner, Rotgipfler oder Zierfandler.“
Seine Partnerin nippte anstandshalber am Glas:
„Fein! Aber ein Lugana oder Gavi ist mir lieber. Apropos Italien. Bist du dir sicher, dass dich der Schweinauer nicht angeschwindelt hat? Solano hier - das glaube ich einfach nicht!“
Simon verzog das Gesicht, als ob man ihm einen billigen Chianti-Verschnitt vorgesetzt hatte. Insgeheim verfluchte er sich und seine Redseligkeit. Warum konnte er nicht den Mund halten? Er spülte den aufkeimenden Ärger auf Ex hinunter. Ob der Wein nach Nüssen, Brombeeren oder nach Strychnin schmeckte, war ihm auf einmal piepegal. Er hatte sich den Abend anders vorgestellt. Ein romantisches Candlelight-Dinner, das ihn und seine Holde in eine angenehm, entspannte Stimmung versetzte. Und jetzt? Jetzt waren Sie wieder bei dem leidigen, unersprießlichen Thema – bei Solano & Co! Er kannte Vroni. Wenn Sie Blut geleckt hatte wurde sie zum Pitbull und ließ nicht mehr locker:
„Warum kommt der ausgerechnet jetzt hierher? Anibale Solano ist schließlich nicht irgendwer. Er gilt als einer der starken
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