Cruzifixus
blöd?“
Es musste einen tieferen Grund für all das geben. Ursache und Wirkung waren indes schwer zu ergründen, wenn die Psyche des Täters in unergründlichen Rationalitäten verwurzelt war. Der Furor der Raserei loderte hell wie die Flammen der Finsternis. Der Wahn, die Wut drückten der Mordtat ihr Siegel auf. Sein Hass aber prägte das Kainszeichen in die Stirn des Mörders.
Die Pestkapelle duckte sich in eine weite Hangmulde. Durch die schmiedeeisernen Gitterstäbe schimmerten die bleichen, ausgezehrten Körper der Todgeweihten im Schein der Kerzen. Die Leiber der Heiligen wanden sich vor Qual und Pein. In ihrer Märtyrerbrust steckten mehr Pfeile als im Schild eines spanischen Konquistadoren nach dem Frontalangriff eines Indioheers. Die Pestheiligen Sebastian und Rochus waren die Namenspatrone seines Großvaters gewesen. Ihm zu Ehren entzündete Simon eine dickbauchige Opferkerze und rammte den stählernen Spieß des Kerzenhalters in ihren weichen Wachsleib. Ein Luftzug ließ die Kerzenflammen flackern. Ihr Licht warf einen Schattenkegel an die Wand hinter dem Altarbild. Vor seinen Augen begannen sich die unter einer dicken Öllackschicht begrabenen Gestalten zu regen und bewegen: ein Inquisitor verbarg sein Antlitz hinter einer scharlachroten Karnevalsmaske, ein eine grell geschminkte Buhldirne zupfte an den Rockschößen eines ungeschlachten Folterknechts, ein spindeldürrer Mendikant nahm einer unförmig aufgedunsenen Mastschweinmatrone die Beichte ab. Um ihn versank die Welt des 21. Jahrhunderts wie ein torpedierter Ozeandampfer in den Fluten der Zeit. Um ihn wurde es Nacht und wie in einem Schauermärchen erhoben sich die schlotternden Gebeine der Geister und Gespenster aus den Gräbern. Vor Simon spannte sich das Leichentuch der Vergangenheit bis in eine Zeit, die den Unterschied zwischen dem Guten und dem Bösen, zwischen Engeln und Dämonen zu erkennen vermeinte. Das Gute kam von oben, war das Lichte, Glänzende, Glitzernde, Gloriose. Das Böse kam von unten, war das Sinistere, Schleimige, Schmierige und Gallertartige. Was nicht den herrschenden Dogmen entsprach, was der scheinheiligen, christlichen Moral entgegenlief, war Häresie, war Irrglaube, war Götzendienerei. Es bedurfte des Instrumentariums der heiligen Inquisition, um den verstockten Satansknechten ihre dunklen Geheimnisse zu entreißen. Die Geständnisse der Gefolterten warfen ein grelles Licht ins dämonische Dunkel, zeigten wie berechtigt die drastischen Gegenmaßnahmen und drakonischen Strafen waren. Schwarzkünstler, Hexenmeister, Nekromanten und Eskamoteure trachteten danach, dem Bösen den Boden zu bereiten und Satan in den Sattel zu hieven. Um dies zu verhindern, war jedes Mittel recht – galt es den Legionen Luzifers mit Feuer und Schwert zu begegnen. Die Kerzen vor dem Gitter flackerten im Wind, brannten heller und heller, bis sie sich in seiner Phantasie zu lodernden Scheiterhaufen auswuchsen. Welch perverse Logik steckte hinter einer Glaubensdoktrin, die Ketzern und Irrgläubigen dasselbe Schicksal zu Teil werden ließ wie dereinst die Heiden den heiligen Märtyrern? Drängte sich da nicht die Frage auf, ob die Männer Gottes in Wahrheit die Advokaten des Antichristen waren?
Wo Licht war, war bekanntlich Schatten. War es indes möglich, dass ein in die Vergangenheit projiziertes Traumbild Schatten warf? Doch es schien so zu sein. Simon schlich in gebückter Haltung an einer aus mächtigen, bossierten Steinquadern gefügten Wand entlang – und sein unförmiger Schatten stelzte unverdrossen hinterdrein. Wo war er? Wann war er? Simon hatte nicht den blassesten Schimmer, wie er hierher gekommen war. Vor ihm öffnete sich ein weiter, vom Zwielicht der Abenddämmerung umkränzter Platz. Darauf wogte eine schier unüberschaubare Menge von Menschen zu Fuß, zu Pferd, von Kutschen, Droschken und Kaleschen hin und her. Um nicht unter die Hufe oder die Räder zu gelangen, drückte er sich an der Wand entlang und flüchtete unter die Arkaden eines Laubengangs. Da wurde er einer hageren, hoch aufgeschossenen Gestalt gewahr, die ihn von obenhin zu mustern schien. Die Gesichtszüge des Fremden kamen Simon seltsam vertraut vor. Wer war dieser arrogante, blasierte, wie ein Laffe herausgeputzte Kerl? Offensichtlich handelte es sich bei ihm um einen Edelmann von Welt. Der blaublütige Beau trug einen weiten, fledermausartigen Umhang und darunter ein elegantes, samtenes, mit Goldbrokatstickerei verziertes Wams.
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