Cruzifixus
Simon flüchtete vor dem Ghetto-Gedudel. Unten im Tal blinkten die Lichter der Stadt. In der Stille der Nacht stellten sich die alten Fragen aufs Neue: Kopf oder Zahl? Eins oder Keins? Sein oder Nichtsein? Jeder Antagonismus gründete letztendlich in der Unvereinbarkeit von Leben und Tod. Simon sah die verkohlten Splitter und Splinte vor sich, die die Kripo-Komparsen mit der Akribie von Archäologen aus dem Schutt gekratzt, aufgesammelt und eingetütet hatten. Wer war jener geheimnisvolle Tote unterm Kreuz? Pater Ägid? Ein Komplize? Mister X? War er Opfer, Täter oder beides? Bruckmeier hatte jedenfalls bezweifelt, ob die Knochenfragmente genügten, um den Toten zu identifizieren, um mit dem ätzenden Zynismus des alten Kriminalers hinzuzufügen:
„Zumindest bleiben der Staatskasse die Kosten fürs Krematorium erspart.“
Der Wiesenhang fiel nach Norden und Osten hin steil ab. Auf dem höchsten Punkt des Grasbuckels fühlte er sich wie in einem Krähennest. Ein Ort wie geschaffen, um die Welt aus der Vogelperspektive zu betrachten und die Dinge genauer zu sondieren. War hier ein Wahnsinniger am Werk gewesen? Ließ sich der Fall somit ad acta legen? Bruckmeier hatte ihm sein Ehrenwort „als Offizier“ gegeben, dass er ihn an den Untersuchungsergebnissen partizipieren lassen werde. Fieberhaft überlegte Simon, welchen Spin er dem Artikel geben sollte. Es war klar, dass Griesgruber mehr erwartete, als eine nüchterne, distanzierte Reportage in der Diktion eines Polizeiberichts. Um der Empörung und der Rachsucht des gemeinen, gut katholischen Lesers Ausdruck zu verleihen, musste die Schlagzeile sitzen. Simon simulierte den exaltierten News-Conferencier:
„Kampf dem Kreuz: Sind die Gotteskrieger unter uns?“
Sollte der Anschlag einen islamitischen Hintergrund haben? Welchen Grund aber gab es für einen Allah-Anarchisten in Hochharting zuzuschlagen? In der Christenheit gab es prestigeträchtigere Ziele: Notre Dame in Paris, Saint Pauls in London, den Petersdom in Rom. Oder war eine Bande von Dschihad-Dilettanten hierher verschlagen worden? Hatten sich pakistanische Tellerstapler mit afghanischen Kneipen-Knechten verschworen, um eine konspirative Terrorzelle zu bilden? Und weswegen? Um sich mitsamt der Kirche in die Luft zu sprengen? Das war absurd, das war abwegig, das wider die Logik. Wer aber sonst sollte sich mit einem solchen Attentat hervortun wollen? Eine Satanistensekte? Ein pangermanischer Bund von Wotansjüngern? Eine Bruderschaft neurotischer Neo-Templer? Simon schlug sich mit der flachen Hand gegen die Stirn:
„Die Templer, der Vril-Verein. Aber klar doch!“
Um seine Herrschaft abzusichern, hatte Hitler ein Konkordat mit der Kurie geschlossen. Das hielt die Apostel des „rechten Glaubens“ allerdings nicht davon ab, einen heidnisch, arischen Führerkult zu praktizieren. Nach außen hin wahrte der Führer zwar die Fassade und vermied offne Kritik an der Kirche. Im Kreis seiner Getreuen nahm er kein Blatt vor dem Mund: im Dritten Reich war kein Platz für den Juden Jesus. Der Führer der Alldeutschen Partei Georg von Schönerer, hatte seinem Eleven die Marschrichtung vorgegeben, um die arische Rasse aus der babylonischen Knechtschaft zu befreien:
„Ohne Juda, ohne Rom bauen wir Germaniens Dom!“
Mit apodiktischem Eifer hatte Schönerer gebetsmühlenhaft wiederholt, dass die artfremde Lehre den bösartigen „morbus judaicus“, die jüdische Krankheit, eingeschleppt und die germanische Volksseele mit dem Bazillus der Kriecherei und Unterwürfigkeit infiziert habe. Eine Frage war indes berechtigt: Welcher Kompass führte eine fanatische Neonazi-Bande genau hierher? Simons Blick verdüsterte sich. Irrlichterten fixe Ideen in seinem Kopf? Hetzte er wie eine Laborrate durch ein auswegloses Labyrinth? Existierte gar kein konspiratives Nazinetz, kein Judas-Club, keine geheime Artamanen-Loge? Wie eng waren die Maschen der Moiren? War die Geschichte mit einfachem Muster gestrickt? Gab es nicht für alles eine Erklärung? Paintinger war das Opfer eines Psychopathen. Dirrigl seines Leichtsinns. Und die Explosion? Vielleicht lagerten im Keller einige Kanister Nitroglyzerin, die durch Unachtsamkeit in die Luft gegangen waren? Simon presste seine Wut in Worte:
„Verdammt noch mal, bin ich denn blind oder
Weitere Kostenlose Bücher