Cruzifixus
beginnen, konnte anspielen was er wollte, nichts klappte, nichts gelang. Litt er an akuter Paranoia? Ehe er den armen Ritter von der Tafelrunde Adieu sagte, hatte er sich bei Niederstrasser überschwänglich für die Einladung bedankt. Niederstrasser hatte angestrengt gelächelt und ihn en passant verabschiedet. Beim Verlassen des Saals war er den Eindruck nicht losgeworden, dass ihm misstrauische Blicke nach draußen begleiteten, dass man einem der Diener mit einem leisen Wink zu verstehen gegeben hatte, die verdächtige Person zu beschatten. In ungewohnter, fast panischer Hast war er durchs Labyrinth der Gassen und Laubengänge geeilt, um sein Refugium, seinen Zufluchtsort, eben den Lindenwirt zu erreichen. Beim Betreten der verräucherten Wirtsstube war die Anspannung mit einem Schlag von ihm abgefallen. In der ersten Euphorie über seine glückliche Rettung aus den Fängen der Kreuzritter hatte Simon die muffige, von Zigarettenqualm und blauen Bierdunst geschwängerte Luft in vollen Zügen eingeatmet. Das Gekrächze und Gejohle der Bierkrugveteranen hatte in seinen Ohren wie ein Jubelchor, ihre von exzessiven Obstler-Orgien, Umzügen und Umtrünken brüchig und bröselig gewordenen Stimmen wie Engelsgesang geklungen. Beinahe hätte er den spontanen Drang nachgegeben, die verlotterten Hopfen-Heroen der Reihe nach zu umarmen. Verzückt hatte er vermeint ferne „Hosianna-Rufe“ zu vernhemen, die ihn den Gesalbten des Herrn begrüßten - die sehnsüchtig erwartete, prometheische Lichtgestalt, die den Menschen das Feuer und den Frieden brachte.
Die „Hosianna“-Rufe waren verklungen, waren dem Katzenjammer der Kassandrarufe gewichen. Runde für Runde wurde er wie ein Suppenhuhn gerupft, wie eine Weihnachtsgans geschröpft. Wäre er ein Gesandter des Herrn gewesen, hätte es ihm zumindest gelingen müssen, das Kartenglück zu seinen Gunsten zu beeinflussen. Doch nichts da. Er verlor Spiel um Spiel und wurde von einem Strudel negativer Energien immer weiter in die Tiefe gerissen. Vinzenz gab keine Ruhe, fortwährend bedachte er seinen Kontrahenten mit giftigen Blicken:
„Auf was wartest denn! Aufs jüngste Gericht oder was?“
Ewald wollte zu einer boshaften Entgegnung ansetzen. Da breitete Sebald seine Arme wie die Jesus-Statue auf dem Zuckerhut in Rio:
„Brüder, gebt Frieden. Wir wollen spielen und nicht streiten!“
Die Zankteufel schenkten Sebalds friedensapostolischem Gerede kein Gehör. Aus ihren Augen sprach die wilde Entschlossenheit, auf Konfrontationskurs zu gehen und den Worten in kürze Taten folgen zu lassen. Ein durch die Uneinigkeit der beiden Dickschädel verloren gegangenes Sauspiel brachte das Fass zum überlaufen:
„Du Betondepp, du hirnloser. Warum spielst du grad Schellen an – und ziehst mir den Zehner.“
Vinzenz schien auf diesen Gefühlsausbruch gewartet zu haben. Wie ein in seiner Ehre gekränkter Samurai erhob er sich langsam aus seinem Stuhl, bereit den ersten Streich zu führen:
„Und? Dafür mache ich mit dem Schellenkönig den Stich. Doch welcher Vollidiot schindet die Gras Sau?“
Nun hielt es auch Ewald nicht mehr auf seinen vier Buchstaben:
„Ich soll die Sau geschunden haben? Komm her, wenn du dich traust du feiger, verlogner Hund!“
Wie ein zwischen die Fronten geratener Friedensengel stotterte Sebald:
„Hockt’s euch hin. Jetzt reden wir erstmal in aller…“
Der diplomatische Vorstoß stieß jedoch auf taube Ohren. Vinzenz schwang drohend die Fäuste:
„Ein Wort noch und ich heb dich…“
Ein gezielter rechter Haken beendete jählings jede weitere „Diskussion“. Vinzenz taumelte, torkelte, aber fiel nicht. Stattdessen holte er zum Gegenschlag aus. Simon und Sebald sprangen zur Seite, um den Schwingern der „Schwergewichtler“ auszuweichen. In Simons Brust stritten der kühne Ritter und die hasenherzige Memme. Da weder das eine noch das andere Ich die Oberhand gewann, schielte Simon Rat und Beistand suchend zu Sebald hinüber, der jedoch nur hilflos mit den Achseln zuckte. Schließlich siegte der Opportunist und Pragmatiker in ihm: Sollten sich die Dumpfköpfe doch gegenseitig die Fresse polieren, so lange er fein raus war! Die beiden Streitbolde
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