Cruzifixus
Wurde das Kreuz für das nächste Opfer bereits errichtet? Oder war der Mörder seinem Wahn, seinen Schuldkomplexen oder seiner eigenen Unbedachtheit zum Opfer gefallen? Wer war der zur Unkenntlichkeit verbrannte Tote, der Eremit? Hatte er das Geheimnis des „Grals“ mit ins Grab genommen? Konnte seine Geschichte einfach so enden?
Es war das Karma des Journalisten die Feder zu spitzen, sich und die Tastatur zu quälen. Er verrichtete die harte, brotlose Fronarbeit des Geknechteten, des Galeerensträflings, des Heloten. Zeile um Zeile, Seite um Seite - stets unter Strom und unter der Fuchtel des Zeitungszerberus stehend. Ein ins Joch der Journaille gespannter Wasserbüffel, der ewig im Kreis herumtrottete, um Eimer für Eimer aus dem trübe dahinströmenden Nachrichtenfluss zu schöpfen. Das mediale Zeitalter destillierte seine Profite aus dem Wahnsinn der Welt. Wo Kalaschnikows Wagners Walkürenritt untermalten, wo die Erde im Granathagel erzitterte und erbebte, ritt die Geisterkarawane der hohläugigen Digidjinns unterm Cyberbanner in die monströse Medienschlacht. Bilder von apoklayptischen Szenarien, von Hass, blinder Wut und Verzweiflung flimmerten via Satellit um die Welt, damit die gelangweilte Wohlstandsgemeinde „live“ im CNN-Kolosseum dabei sein konnte. Wäre damals in Jerusalem ein Reporter-Team vor Ort gewesen, hätten die TV-Stationen live nach Golgatha schalten können, um mit einem genüsslichen Schauder in der Stimme zu verkünden: „Crucifixus Est!“ Simon kratzte sich die Bartstoppeln. Der Plot war heute wie vor 2000 Jahren der Gleiche: Good guy meets bad guy! Blieb die Frage: Wer war des Teufels und wer ein Mann Gottes? Wer war der gottgesandte Prophet und wer der blutrünstige Fanatiker? Mit wem hatte er es hier zu tun? Mit Terror-Templern, mit Satans Schergen, kurz der SS? Auf den Schlag kehrte der Kopfschmerz zurück. Hinter seinen Schläfen hämmerte ein geisteskranker Gnom auf einen gigantischen Gong. Um dem Schmerz zu entfliehen schloß er die Augen. Lichtgewitter entluden sich in seiner Hirnrinde. Endlich verlor der blitzlichtartig ausstrahlende Schmerz an Intensität. Die Leuchtspuren des neuronalen Nordlichts zerfielen, zerfaserten zu Farbfragmenten des Regenbogens. Wie durch den Tubus eines Mikroskops betrachtete Simon die sich auf dem gemaserten Papier abzeichnenden Linien. Langsam nahm das Gitterwerk des Diagramms Gestalt an, gewann an Form und Aussagekraft. Cum grano salis gesprochen, musste er sich in der Kunst der Reduktion üben, schmückendes Beiwerk weglassen, um den Knäuel der Handlungsstränge zu entwirren. Einem logisch denkenden, analytisch vorgehenden Verstand sollte es doch möglich sein, ein Muster in dem verworrenen Geschichtsgespinst zu erkennen, die fein gesponnenen Schleier zu zerreißen, um die Hintergründe der Tat sichtbar zu machen. Leider war Simon noch nie ein abstrakter Denker vom Schlage eines Pythagoras, Thales oder Archimedes gewesen. Zu seiner Schande musste er sich eingestehen, dass er keine Leuchte der Logik war. So leicht ihm das Jonglieren mit Sätzen und Sentenzen fiel, so unerquicklich gestaltete sich der Umgang mit Variablen und Konstanten, Quotienten und Exponenten. Bei der Booleschen Algebra, den Differentialgleichungen n-ter Ordnung oder den Konvergenzkriterien arithmetischer Reihen hörte sich der Spaß auf. Die höhere Mathematik war für ihn ein Buch mit sieben Siegeln, die Wunderwelt der kubisch, komplexen Körper blieb ihm verschlossen. Er wusste aus dem Stegreif weder zu sagen was die Zahl Pi geschweige denn die fünfte Potenz von 3 war. In Punkto Kombinatorik und Beweisführung war er eine Doppelnull. Das aus ihm kein Mathegenie werden würde, hatte sich früh abgezeichnet. Bereits als Zweit- oder Drittklassler war er an den simpelsten Rätselaufgaben seines Opas gescheitert:
„Was hat vier Füße und kann doch nicht laufen?“
„Welcher Baum hat keine Wurzeln?“
Die Welt der Rätsel war ein verschlungenes Labyrinth, in dem er prinzipiell auf Irrwege geriet. In der Abhandlung einer Koryphäe des abstrakten Denkens hatte Simon gelesen, dass sich das wunderliche Wesen der Dinge durch Nachsinnen und Nachgrübeln nicht entschlüsseln ließ und selbstreferentielle Bezüge zu rein hypothetischen Ergebnissen führten. Rätsel ließen sich einzig durch eine ausgiebige Betrachtung des Gegenstands respektive der ihm anhaftenden Zeichensymbolik
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