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Cruzifixus

Cruzifixus

Titel: Cruzifixus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hans-Peter Dinesh Bauer
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elliptischen Kreisbahnen, von planetaren Objekten deren Inneres ausgehöhlt war wie die Kürbisköpfe zu Halloween. Offensichtlich hatte sich der Dechant in die abstruse Lehre von der Hohlwelt vertieft. Jene von den Nazis verfochtene Theorie besagte, dass das gesamte Universum bequerm im Innern einer konvex gekrümmten Sphäre namens Erde Platz fand. Die Bewohner jener Sphäre krabbelten wie Ameisen auf dem äußeren Rand der Schale. Die physikalischen Eigenschaften des in der Sphäre geborgenen Raums wären weder homogen noch isotrop. Die eigentümliche These war zuerst von einem amerikanischen Marineoffizier namens Cyrus Reed Teed aufgestellt und Jahrzehnte später von einem gewissen Johannes Lang modifiziert und runderneuert worden. In seinem 1930 erschienenen Opus Magnum "Das neue Weltbild" verfeinerte Lang das Denkmodell, konstruierte diverse, aberwitzige Axiome, um das Bild des Universums komplett umzukrempeln. Die Vril-Gesellschaft, ein im Geheimen operierender Arierbund, propagierte Langs irrwitzige Ideen, da sie darin den Gegenentwurf zur jüdischen Relativitätstheorie zu finden hoffte. Selbst Hitler, der die okkultistischen Phantasmagorien mancher seiner Jünger gemeinhin mit Verachtung strafte, beschäftigte sich intensiv mit der Langschen Hohlwelt- und Hörbigers Welteislehre. Simon rieb sich die vor Überanstrengung geröteten Augen: Wieso verfiel er immer wieder auf den Gedanken, dass der Ungeist des germanischen Irrwahns noch immer in den Gehirnen verblendeter Fanatiker herumspukte, die von einem „Starken von Oben“ träumten und in konspirativen Zirkeln über Umsturzplänen brüteten. Etwas in ihm pochte hartnäckig darauf, dass die Täter im Umkreis nazistisch unterwanderter Satanistensekten zu suchen waren, die den blutrünstigen Götzen des Bösen huldigten. Um den dumpfen Kopfschmerz zu vertreiben, massierte er seine Schläfen. Langsam ließ der Schmerz nach. Mit ihm schwand jedoch auch die von empathische, ekstatische Überzeugung, dass die Lösung des Falls greifbar nah war. Im kühlen Licht der Ratio betrachtet, glichen seine Erwägungen auf fatale Weise jenen absonderlichen Hohlwelt-Hypothesen, die jeglicher Faktizität entbehrten. Seine Annahmen konnte er weder begründen noch beweisen – Sie boten höchstens Stoff für eine Enthüllungsgeschichte. Hitler-Horror verkaufte sich bekanntlich blendend - vor allem wenn man mit Gruselgeschichten aus dem Monstrositätenkabinett des Diktators hausieren ging. Irgendein Experte, irgendein obskurer Historiker oder Hysteriker fand sich immer, der mit pseudowissenschaftlicher Akkuratesse nachwies, dass sich das wahre Grab Jesu in den Katakomben des Berghofs befand. Simon öffnete die Augen und sah ein riesiges, leeres Blatt vor sich. Im Gangliengeflecht herrschte absolute Funkstille. Sein Kopf war hohl wie die Welt der Nazis. Er knabberte an der Kappe des Filzschreibers, kritzelte Strichmännchen und Strichweibchen aufs Papier. Simons zeichnerisches Talent hielt sich allerdings in Grenzen. Ein flüchtiger Seitenblick genügte, um festzustellen, dass an ihm kein Dürer, Picasso oder Miro verloren gegangen war. Den naiven Strichmenschen folgte eine mit ungelenker Hand hingeworfene Zeichnung in Art eines Diagramms. Simon suchte mit grafischen Darstellungen Licht ins Dunkel zu tragen und den Ablauf der Ereignisse in sich schlüssig zu rekonstruieren:
                „Das wäre doch gelacht! Ich bin doch ein Kreativer.“
                Ein interdisziplinärer Ansatz musste her. Er musste die Methodik des Kriminalisten mit dem Genius des Journalisten kombinieren. Der P-, der Persönlichkeitswert jedes Protagonisten sollte sich anhand seiner Position auf der x- und y-Achse in ein Koordinatensystem übertragen lassen. Quietschend fuhr der rote Filzer übers Papier, beschrieb einen hohen, parabolischen Bogen, ehe er sich zu einem Fragezeichen mit Pünktchen krümmte. Den großen Unbekannten kennzeichnete Simon durch die Buchstabenfolge XY. Um die Verwirrung vollkommen zu machen, stichelte und strichelte Simon eine Zeitachse, die die Basis des Koordinatensystems abbilden sollte. T- respektive Tatpunkte markierten die Wendepunkte in der Chronologie des Verbrechens: T 1 bezeichnete den Mord an der Marter, T 2 die Entführung des Eremiten, T 3 den Todessturz Dirrigls, T 4 die nächtliche Razzia in der Einsiedelei, T 5 das Sprengstoffattentat, T 6 den Konvent der armen Kreuzritter. Für was stand T 7? War der nächste Mord schon in Planung?

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