Cruzifixus
lösen. Ein Rätsel war demzufolge dazu da, jemand auf die Probe zu stellen, ob er der höheren Weihen der eleusinischen oder anderer Mysterien würdig war. Orakelsprüche wie die der Pythia von Delphi waren demgemäß doppelsinnig und vieldeutig. Es zählte, was zwischen den Zeilen stand. Er war jedenfalls ratlos. Er knabberte an der Kappe seines Filzers wie Meister Lampe an einer mürben Möhre. Wer nicht im Stande war das Rätsel zu lösen, dem blieb die Hoffnung auf einen Fingerzeig von oben.
Der Kelch der Bitternis hatte die Form eines Pappbechers. Simon nippte an dem Automaten-Gebräu und verzog angewidert das Gesicht:
„Bäh! Das soll aromatisch gerösteter Hochland-Kaffee aus den besten Bohnen sein? Das Zeug schmeckt ja widerlich!“
Er kippte die dünne, bräunliche Brühe in den Ausguss. Mit der Last der halben Welt beladen schlurfte er durch den langen Korridor, der die Cafeteria mit den Redaktionsräumen verband. Die in regelmäßigen Abständen in die Decke eingelassenen Neonleuchten ließen den Schatten seines Doppelgängers über die weiß getünchten Wände huschen. Ringsum war es still wie am Tage nach dem jüngsten Gericht. Selbst im Büro des Chefs brannte kein Licht mehr. Simon fühlte sich wie der letzte Merkur-Mohikaner. Wiederwillig setzte er sich an seinem Schreibtisch und musterte das vor ihm ausgebreitete Elaborat: ein Wirrwarr hastig hingeschluderter Strichzeichnungen – ohne jede Systematik. In Simons Miene spiegelten sich Verzweiflung und Überdruss. Je länger er die graphische Darstellung der in den Fall verwickelten Personen und Gruppierungen betrachtete, die sich wie Perlen an einem Rosenkranz an Abszisse und Ordinate eines kartesischen Koordinatensystems reihten, desto weniger ließen sich darin irgendwelche Querverbindungen oder Muster erkennen. Deprimiert stützte er sein Kinn auf seine Rechte. Wieso kam er auf keinen grünen Zweig? Morgen früh war Themenkonferenz – und er hatte keine zündende Idee und keine Lust irgendeine fade Geschichte aus dem Hut zu zaubern! Mürrisch kratzte er seinen Kinnbart:
„Nix geht. Nix steht.“
Die Analyse der spärlichen DNA-Spuren hatte keinerlei Hinweis auf die Identität des „Feuerteufels“ ergeben. Der Obduktionsbericht des Gerichtspathologen wand sich in mit lateinischen Fachausdrücken gespickten Bandwurmsätzen um ein abschließendes Urteil. Und „Maitre“ Bruckmeier ließ nichts mehr von sich hören. Insgeheim hegte Simon die Befürchtung, dass er seinem getreuen „Capitaine“ zum Teufel schicken wollte. Jedenfalls hatte er ihn am Telefon im schroffen Tonfall die Leviten gelesen:
„Diese Impertinenz der Journaille! Monsieur, c’est incroyable! C’est scandaleuse, vraiment! Haben Sie eine Ahnung, was hier los ist? Ich erlebe ein zweites Waterloo! Ich stecke bis zum Hals in der Scheiße und die Schmeißfliegen schwirren um mich herum! War das deutlich genug? Bon, alors comme il faut! Gott befohlen!“
Immerhin hatte er ihn wissen lassen, dass mit „hoch wirksamen RDX-Sprengstoff“ bestückte Sprengkapseln an den tragenden Pfeilern befestigt und mittels einer automatischen Zündvorrichtung gezündet worden waren. Im Presse-Kommunique hieß es lapidar:
„Nach derzeitigem Ermittlungsstand liegen keine Hinweise auf einen extremistischen oder terroristischen Hintergrund vor. Es sind jedoch Ermittlungen in alle Richtungen aufgenommen worden.“
Simon brummte ungehalten:
„Bullenscheiße!“
Hinweise, Spuren gab es immer! Der Boden rund um den Tatort glich einer Wachsschicht, dem der Täter ungewollt seinen Stempel, sein Siegel aufdrückte. In diesem Fall war das Wachs jedoch geschmolzen, waren die möglichen Beweisgegenstände zu Asche verbrannt. Die Täter hatten alles daran gesetzt, ihre Spuren zu verwischen. Ließ sich daraus nicht der Umkehrschluss ziehen, dass hier Profis am Werk waren? Es schien Simon durchaus im Bereich des Möglichen, dass der Anschlag aufs Konto des bewaffneten Flügels der SAA, der satanisch, arischen Armee ging, dass hier die Söhne Satans, die Verehrer Wotans am Werk waren! Was sprach gegen die Annahme, dass sich im Schatten des heiligen Bergs der germanischen Sagenwelt eine nazistische Terror-Zelle gebildet hatte, die die Zwingburgen Roms in die Luft jagte,
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