Cruzifixus
ihrem okkulten Hokuspokus gutgläubige Idioten über den Tisch zogen. Über die Frage ob es ein verborgenes, dem Normalsterblichen verschlossenes Wissen gab, gerieten Simon und Vinzenz regelmäßig aneinander. Mit der Intransigenz eines bayerischen Sturschädels und Querkopfs behauptete Vinzenz, dass die Welt seit über tausend Jahren von einem Brüderrat, einer 13-köpfigen Gruppe von Satanisten und Schwarzmagiern, regiert werde. Solch abstruse Annahmen entbehrten natürlich jeglicher realen Grundlage. Sein journalistisches Ethos verpflichte ihn jedoch allen noch so subjektiven Spuren nachzugehen und auch den PSI-Faktor a priori nicht gänzlich auszuschließen. Der Mörder mochte schließlich in seinem Wahn wähnen, die Stimmen der Engel zu hören und auf Befehl eines „unsichtbaren Oberen“ zu handeln. Nichts war unmöglich. Die Idee einer ferngesteuerten Mörder-Marionette war ebenso hübsch wie verlockend. Mittels eines solchen Kunstgriffs ließ sich ein roter Faden durchs Webmuster des Wahns ziehen. Seine Schläfenadern traten hervor, seine Brauen zogen sich zusammen. Und wer war jener unerkannte, unbekannte Marionettenspieler? Ein Dämon, ein böser Geist? Wer eine spannende Geschichte erzählte wollte, der kam ohne den Dualismus, den Antagonismus von Gut und Böse nicht aus. Zu einem guten Plot gehörten immer zwei: Christus und Judas, Doktor Faustus und Mephistopheles, Luke Skywalker und Darth Vader. Das Schema von Schwarz und Weiß war so alt wie die Welt. Die Blumen des Bösen gdiehen am prächtigsten im Miasma des Heiligen und Heldischen. Seine Gedanken wirbelten wie ein Derwisch im Kreis herum. Lastete der Fluch der Finsternis auf den Fichtenforsten am Röhrmoos? Trieb ein blutrünstiger Dämon sein Unwesen im Tal der Ache? Stampfte ein riesenhafter Golem durchs Gebirge? Nein, der Mörder und sein Meister waren Menschen, die in ihrer Hybris und Vermessenheit vermeinten Gesandte der Nemesis zu sein.
Das Signum des Satans
Non enim est aliquid absconditum quod non manifestetur, nec factum est occultum sed ut in palam veniat! Si quis habet aures audiendi, audiat! Kein Arkanum, das nicht offenbart, kein Geheimnis, das nicht enthüllt wird. Wer Ohren hat, der höre!
Simon war hören und sehen vergangen. Seine Umgebung nahm er wie durch einen aus feinen Fasern gesponnenen Grauschleier war. Kein Frühlingsklang, kein Sonnengesang drang durch den Kokon. Er war ein Gefangner, der sich an einem Ort der Unterwelt befand, an dem jedwede Empfindung abstumpfte, Zeit zu zähflüssiger Magma gerann und zu grauer Schlacke erstarrte. Er bot den Anblick eines Zombies, der im Schatten einer Seelenfinsternis wandelte. Sein Rücken krümmte sich unter dem Gewicht der Kraxe. Mit ungelenken Schritten folgte er den lang und länger werdenden Schatten. Die den Weg säumenden Hecken standen in voller Blüte. In den Dornenhecken am Wegesrand fiepte und trällerte es. Die Vögel des Waldes schienen sich des Lebens zu erfreuen. Der Frühling war gekommen – und mit ihm der Blütenzauber, die taufrischen, kräftigen Farben, die betörenden, berauschenden Düfte. Simon blieb an einer Weggabelung stehen und blickte zum bayrischblauen Himmel empor. Die eisenbeschlagenen Hufe der Feuerrosse des Helios ließen die Funken sprühen, dass die Gipfel und Grate in einem gewaltigen Farbenfeuer aufloderten. Zu besseren Zeiten hatten ihn die Galavorstellungen der Natur zu poetischen Höchstleistungen angespornt, zu Hexametern, Alexandrinern und Distichen animiert. Ja im Überschwang großer Gefühle hatte er Sonette und Oden in der Manier der alten Meister verfasst. Inmitten des trüben Sumpfs der Zeitungsprosa war indes der Born der Poesie versiegt. Mit leidenserprobter Märtyrermiene stapfte er bergan. Er verfluchte seine mangelnde Entschlusskraft, seine Wehleidigkeit und die Unfähigkeit auf den Tisch zu hauen und Kontra zu geben:
„Zefix, Kruzifix! Wie blöd muss man sein? Die Geister der Toten beschwören – so ein Scheiß! Und ich bin so deppert und schlepp einen zentnerschweren Brocken den Berg hinauf! Wenn es dort oben irgendwas gibt – dann Steine! Aber nein, es muss ja unbedingt ein Trumm Untersberger Marmor sein!“
Unter Fluchen und Verwünschungen keuchte und krauchte Simon den Abhang hinauf. Neben den besagten marmornen Minimonolithen hatte er weitere Utensilien des Nekromantenhandwerks geladen: Campingkocher samt Gaskartusche und Dreifuß, Eiben- und Mistelzweige, Erde von
Weitere Kostenlose Bücher