Cruzifixus
um ein faschistisches Fanal zu setzen? Hatte Simon einmal Blut geleckt, ging alles sehr schnell. Ohne lang zu fackeln, klappte er den Moleskine-Notizblock an der durch ein rotes Stoffbändchen vorgemerkten Stelle auf und begann laut über die Schlagzeile nachzudenken:
„Die Nazi-Zelle: Ein Hosianna für Hitler?“
„Die Kreuz-Killer: Mord im Zeichen des Teufels?“
Ein schmales, sarkastisches Lächeln krümmte seine Mundwinkel:
„Kreuz-Killer - das hat was, das fällt ins Auge!“
Wer mit dem Teufel, respektive den bösen Beelzebubbuben im Bunde war, dem war alles – selbst die grausigsten Verbrechen - zuzutrauen.
Er hatte genug. Notebook und Notizblock wanderten in seiner abgeschabten, noch aus Uni-Zeiten stammenden Aktentasche. Als sich die Flügeltür hinter ihm ins Schloss schnappte, fühlte er sich wie der den Fängen des Kyklopen Polyphems entkommene Odysseus. Wie ein übermütiges Springbockfohlen hüpfte er über den Bürgersteig, kickte eine leere Bierdose gegen die Kotflügel eines Bonzen-Boliden. Einen magischen Moment lang schien ihm die Fortuna von oben herab zuzulächeln. Die Glücksgöttin schien ihm gewogen, schien in ihrem leicht geschürzten Peplos die personifizierte Anmut und Sinnlichkeit zu sein. Simon ging wie auf Wolken, ließ sich vom himmlischen Lichtstrahl ins Café an der Uferpromenade leiten. Unter dem Schirm Fortunas kam er auf einem Sonnenplätzchen zu sitzen. Er schwang sein Sakko über die Stuhllehne, rückte seine Sonnenbrille zu Recht und schaute sich unauffällig um, ob er nicht irgendwo ein bekanntes Gesicht erspähte. Ein paar Tische weiter waren zwei Mode-Tussis aus der Anzeigenabteilung in ein offensichtlich streng vertrauliches Gespräch vertieft. Die auf der Sonnenbank knusprig gebräunten Rauschgoldengelchen steckten ihre Köpfchen zusammen, strichen ostentativ über den Saum ihres kurzen Lederröckchens und zupften am Dekolleté ihres Rüschenblüschens herum. Mit dem abgeklärten, etwas müden Blick des abgehalfterten Schürzenjägers betrachtete er das Balzritual der beiden Blondinen. Es war der Fluch der Hormone und Pheromone, die ihn in den Ausschnitt der beiden üppig bestückten Annoncen-Hyänen schielen ließ. Das Weib lockte – und der Mann? Der war und blieb ein gockelhafter Gernegroß, der sich beim Anblick eines paarungsbereiten Weibchens in einen sabbernden Straßenköter verwandelte. Die Crux an der Sexualität war, dass sie nicht so unkompliziert und triebhaft ausgelebt wurde wie bei den Vierbeinern. Eros und Libido waren Moralaposteln wie Pater Ägid ein Dorn im Auge. Niederstrasser und seine bigotten, frömmlerischen Kreuzritter geißelten die Fleischeslust und verdammten die Unzucht als widernatürliches Laster. Warum in aller Welt sollte Liebe Sünde sein? Simon riss sich vom Anblick der beiden blondgelockten Sirenen los und schlug die vor ihm liegende Torten- und Kuchenkarte auf: Schwarzwälder Kirsch, Sacher, Spanische Vanille. Die „süße, sahnige Sünde“ verhieß die perfekte, orale Ersatzbefriedigung. Er klappte die Karte zu. Die Vorderseite zierte ein Monogramm: zwei ineinander verschlungene Schnörkel, ein P und ein P. Das Akronym PP stand für Patisserie Paintinger. Wie der halbe Ort befand sich auch das erste Kaffeehaus am Platz im Besitz jener weit verzeigten, geschäftstüchtigen Sippschaft. Die umtriebige Besitzerin des florierenden Espresso-Etablissements Pauline Paintinger war indes nur um drei Ecken mit den massakrierten Paten gleichen Namens verwandt. Simon nahm die Sonnenbrille ab und rieb sich die Nasenwurzel. Plötzlich kam ihm ein in seiner Trivialität schlagender Gedanke. War Paintinger am Ende das Opfer eines Familiendramas, einer blutigen Fehde geworden? Waren Dirrigl und der Pater beseitigt worden, weil Sie den räuberischen, raffgierigen Clan erpresst hatten?
Die ausdruckslose, leicht enerviert klingende Stimme der Serviererin riss ihn aus seinen Gedanken:
„Einmal Sacher mit Sahne, der Herr!“
Die spröde Schönheit steckte in einem neckischen Kostümchen mit weißer Schürze, schwarzem Rock und blauer Bluse und ließ sich zu einem gnädigen Komtessenlächeln herab. Simon erwiderte ihr manieriertes Lächeln und beschnupperte das verführerisch duftende Tortenstück mit der Hingabe eines Hofkonditors, der sich an seinen eigenen Kreationen
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