Cruzifixus
berauscht. Unter dem sanftem Druck der Kuchengabel zersplitterte die Schokoglasur. Die stählernen Zinken bohrten sich in das von feinen Cremeäderchen und Marmeladeflözen durchzogene Innere. In Erwartung jenes zauberischen Moments, an dem sich die feinen Geschmacksnuancen in der Gaumenhöhle in einen cremigen Crescendo vereinigten, leckte sich Simon die Lippen. Ein Stück Sacher versüßte die bitterste Pille. Der goldene Glast der Abendsonne ließ in alles in einem anderen, milderen Licht betrachten. Seine Seelensaiten waren fein gestimmt. Die sanfte Brise Zephyrs entlockte ihnen eine träumerische Melodie, zwischen Eloge und Elegie. Um ihn herum plapperten und schnatterten die Heustadel-Hetären, schwatzten und schmatzten die Mokka-Megären. In das muntere Stimmengewirr mengte sich das Rauschen und Tosen der Ache. Simon vermeinte die Gegenwart der Glücksgöttin zu spüren, dass Rascheln des spinnwebfeinen Stoffs ihres Chitons zu hören, als sie an ihm vorüber glitt. Sollte er die Gunst der glücklichen Stunde nutzen? Er schielte nach seiner Aktentasche. Auf seinem Notebook wartete der Nekrolog auf den Vorsitzenden des Abwasserzweckverbands Kastulus Karpfhuber auf ihn. Karpfhuber war letztes Wochenende bei einer Mountainbike-Tour im Wambachtal vom Weg abgekommen, hatte sich zwei, dreimal überschlagen und war kopfüber gegen einen massiven Felsblock geprallt. Da half kein Helm, kein Halleluja mehr. Der Nachruf musste in Form gebracht, die Verdienste des rührigen Parteigranden herausgestrichen, das soziale und gesellschaftliche Engagement des hemdsärmeligen Alpenbazi gewürdigt werden. Simon schleckte die Sahnespritzer vom Tellerrand und dachte nach. Stand dieser neue Unglücksfall in irgendeinem Zusammenhang mit der Mordserie? Hatte der „Kreuz-Killer“ zugeschlagen, eine Flügelschraube am Rad des Kommunalpolitikers gelockert, die Zugseile der Bremsen angesägt? Oder sah er langsam Gespenster? Die Polizei ging jedenfalls von einem tragischen Unfall aus, zumal Karpfhuber nach einem Zwischenstopp auf der Breitlahner-Alm die Abfahrt ins Tal mit 2,4 Promille im Blut angetreten hatte. Mit der Zeit lief er Gefahr sich im eigenen Netz zu verstricken. Es galt sich auf die „Basics“ zu besinnen und einen Steckbrief des Opfers zu basteln. Entschlossen schob er Kuchenteller und Kaffeetasse zur Seite und machte sich an die Arbeit. Stichpunktartig notierte er:
„Paul Paintinger! Skrupellos, herrisch, hinterfotzig. Sein Vater, sein Onkel - windige Geschäftemacher, Nazi-Schacherer! Er selbst – nach dem Krieg mit den Amis liiert. Dubiose Deals, saftige Provisionen. In den 60er, 70er Jahren gut im Amigo-Geschäft, scheffelt Kohle ohne Ende. Persönliche Interessen? Passionierter Jäger! Waffennarr! Graue Eminenz, aktiv in geheimen Zirkeln! Illegale Geschäfte? Schwer zu beweisen. Kinder? Keine – oder zumindest keine bekannten! Familienclan untereinander zerstritten! Dritte Generation in Skandal um illegale Beteiligungsgesellschaften verwickelt. Motive? Geldgier? Neid? Erbstreit?“
Simon überflog die stenografischen Aufzeichnungen. Zeichnete sich da nicht ein Kampf hinter den Kulissen ab, ein Kampf ums Erbe, um Einfluss und Macht? War das ganze ein Auftragsmord – die Kreuzigungsszne ein geschickt eingefädeltes Ablenkungsmanöver? Gab es also gar keine Kabale im Zeichen des Kreuzes, keine verschwörerischen Umtriebe, keine Geheimgesellschaften? Existierte das alles nur in seiner Phantasie, waren seine Blaupausen des Bösen nur Chimären? Simon hätte beinahe wie ein unartiges, zorniges Kind mit dem Fuss aufgestampft. Es musste ein Komplott, eine Intrige, ein heimtückischer Plan im Spiel sein! Und er würde es beweisen.
Die Figur des ungläubigen Thomas, des Zweiflers und Skeptikers war Simon irgendwie sympathisch. Der Apostel war kein Blindgläubiger, er war ein unruhiger, zu philosophischen Spekulationen und Rabulistereien aufgelegter Geist. Die visionäre Schau, die phänomenologischen Ansätze, die hermetisch-hermeneutischer Erkenntnislehren waren ihm fremd. Simons metaphysisches, philosophisches Ich wurzelte in einer denkwürdigen Kreuzung von Kyniker, Empiriker und Epikureer. Geistertänzer wie Seelenseher, Teufelsanbeter wie Pentagrammpinsler, Satansschamanen wie die Akolythen der Apokalypse waren ihm dagegen zutiefst suspekt. In ihnen sah er eine Bagage von Gauklern und Eskamoteuren, die mit ihren angeblichen magischen Kräften hausieren gingen und mit
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