Cruzifixus
einem frisch ausgehobenen Grab, zerstoßenes Glas von einem Kirchenfenster - dazu Fressalien und Essabilien fürs leibliche Wohl des Meistermagiers: Bauernbrot, Schwarzgeräuchertes, Presssack und ein paar Bügelflaschen Bier. Die Kraxe wog gut und gerne 30 Kilo. Mit letzter Kraftanstrengung erreichte er sein Ziel: die Arbinger Höhe, exakt 999 Meter über Normalnull. Der Meister erwartete seinen Adepten bereits voller Ungeduld:
„Wo bleibst denn so lange, der Mond geht gleich auf! Schick dich!“
Er setzte die gewichtige Miene eines Druidenpapsts auf:
„Spürst du den Nimbus des Heiligen, das Fluidum des Magischen, das diesen Ort umgibt? Bei Vollmond werden gewaltige Energien frei. Die erdmagnetische Strahlung dürfte, Pi mal Daumen gerechnet, einen Wert von 1500 Rem erreichen! Wenn sich zwei Wellen gleicher Frequenz aber unterschiedlicher Amplitude und Phase überlagern, entsteht daraus eine seismische Interferenz, was wiederum gewaltige Bodenwellen auslöst. Du wirst sehen!“
Vinzenz hielt eine Wünschelrute in der Hand und folgte den Verlauf einer für Normalsterbliche unsichtbaren, chthonischen Drachenlinie. Auf einmal blieb er wie vom Blitz getroffen stehen. Über ihn breitete sich das weit ausladende Geäst einer mächtigen, von Wind und Wetter zerzausten Bergbuche. Vinzenz schrie, als ob er auf den Stein des Weisen oder den Prunksarkophag eines altägyptischen Pharaos gestoßen war:
„Schau! Genau hier befindet sich der Schnittpunkt zweier energetischer Ströme! Der Baum pfählt die Energie, verbindet den Kosmos mit der Erde. Denk nur an einen Totempfahl oder einen Sendemast. Der optimale Platz, um die Geister mit Hilfe der okkulten Künste der Geomantie zu beschwören!“
Simon konnte die Begeisterung seines Meisters nicht recht teilen. Ächzend setzte er die schwere Kraxe ab und rieb sich die von den Riemen wund geriebenen Stellen. Insgeheim schwur er bei allen Heiligen des Himmels: Nie wieder Geister!
Simon sah sich mit skeptischen Blicken um. Sollte dies der Ort der Erkenntnis sein?
Die borkige Rinde des Baumriesen war von hieroglyphischen Schriftzeichen und kryptischen Emblemen förmlich übersät. Stählerne Klingen hatten Kerben und Wundmale auf der Holzhaut hinterlassen. Welche Rowdyrotte hatte hier gewütet? Simon meinte sich zu erinnern, dass es in der guten alten Zeit amouröser Brauch gewesen war, Herzen ins Holz zu schnitzen und sich unter dem Buchenbaum unverbrüchliche Treue zu schwören. Um den Bund zu besiegeln musste, wenn schon nicht Blut, so zumindest Harz fließen. Der fortwährende Aderlass hatte den Baum geschwächt, aber nicht gefällt. Über die Jahre hatten sich Wülste, Wölbungen und Ausstülpungen gebildet, um die Wunden zu schließen. Die Schnitte und Einkerbungen waren überformt, verwachsen und ihrer Symbolik beraubt. Was war aus den Menschen und ihren Träumen geworden? Was aus ihrer Liebe, ihrer Leidenschaft, ihrem Leid? War das Leben nichts als ein Trugbild schnöder Eitelkeit, war alles nur Schall und Rauch? Simon kam ins sinnieren. Sein Gesicht bekam einen grämlichen, verdrießlichen Ausdruck. Mit belegter Stimme unkte er:
„Ich weiß nicht Vinz, irgendwie habe ich ein ungutes Gefühl bei der Sache. Sollten wir die Toten nicht in Frieden lassen?“
Vinzenz fuhr herum und starrte ihn aus ungläubigen Augen an:
„Was? Willst du etwa einen Rückzieher machen?“
Sein Partner fletschte sein schadhaftes Gebiss. Er schien drauf und dran, ihm an die Gurgel zu springen:
„Erst das Maul aufreißen und dann den Schwanz einziehen - und das wo wir fast am Ziel sind!“
Simon hob seine Hände zu einer beschwichtigenden Geste:
„Jetzt reg dich wieder ab! Es könnt doch sein, dass wir auf dem Holzweg sind?“
Vinzenz bekam seine Erregung in den Griff. Seine aufgeregte Stimme fand zu ihrem arroganten, hochnäsigen Tonfall zurück:
„Warum sind die Leute früher in Scharen hierher gepilgert, hm?“
Simons Schwermut paarte sich mit Sarkasmus:
„Zum Picknick mit Bergblick?“
In Vinzenzens Augen funkelte es
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