Cruzifixus
Kuhflucht-Klamm. Graugrün schäumte es um tonnenschwere Felsblöcke, grub sich Jahr für Jahr tiefer in den Untergrund und rauschte unaufhaltsam zu Tal. Der schmale Saumpfad schlängelte sich hoch über den von der Ache ins poröse Kalkgestein gefrästen Abgrund dahin. Simon hielt sich an einem daumendicken Drahtseil fest und setzte jeden seiner Schritte auf dem feuchten, glitschigen Fels mit Bedacht. Die Passage oberhalb des Höllentors erforderte ein Höchstmaß an Konzentration und ein gewisses Maß an Trittsicherheit. Simon kannte den Weg von Kindesbeinen an, dennoch war er vorsichtig. Ein Schritt daneben und er stimmte demnächst im Engelschor ein „Halleluja“ an. Simon hangelte sich wie ein altersschwacher Orang-Utan eine Steinstufe empor. Die Sonne hatte sich hinter einem Haufen Kumuluswölkchen versteckt, dennoch brachte ihn die Kletterei zum Schwitzen. Wieder und wieder wischte er sich den Schweiß von der Stirn. Die Luft war von einer drückenden Schwüle, seine Beine wogen schwer wie Blei. Wieso kehrte er nicht einfach um? Er hatte gute Lust die ganze Sache abzublasen. Sollte der alte Wirrkopf doch zum Teufel gehen! Der Hochwald dampfte vor Feuchtigkeit. Nebelschwaden glitten wie geisterhafte Schemen über dem Almkessel. Immer wieder verschwanden die Felshöcker und Bergrücken ringsum im nebligen Gewölk. Es war ihm, als ob er durch ein dunkles Tal wandelte, zumal es bereits später Nachmittag war und die Bergschatten ihre schwarzen Flügel ausbreiteten. Er durfte jetzt nicht zögern, er musste weiter, musste Vinzenz sehen! Simon zog die Riemen des Rucksacks straff und trabte los. Der Rucksack war fast so schwer wie seine Beine. In aller Hast hatte er seine Notfallausrüstung eingepackt: Handlampe, Gaskocher, Multifunktionsmesser, Walkie-Talkie, seine Nikon-Spiegelreflex und das unverzichtbare Diktafon. Er war gut gerüstet für das Gipfeltreffen mit Pater Ägid, dem geheimnisumwitterten Anführer der Waldbrüder-Bande. Falls ihm Vinzenz keine Märchen erzählt hatte, war der Eremit zu einem Gespräch im Beisein seines Neffen bereit. Vinzenz hatte ihm am Telefon hoch und heilig versichert, dass sein Onkel unschuldig sei und alle gegen ihn erhobenen Vorwürfe rückhaltlos aufklären werde. Ein Exklusivinterview war mehr als Simon zu hoffen gewagt hatte, das war wie ein Sechser im Lotto. Wenn alles so lief wie geplant, würde die Story einschlagen wie eine Bombe. Andrerseits konnte es gut sein, dass ihm Vinzenz einen Bären aufgebunden hatte und der Alte nur Blödsinn verzapfte. Simon schnaufte bergan. Dem von den Regengüssen der letzten Tage aufgeweichten Waldboden entströmte ein erdiger, modriger Geruch. Der Saumweg hatte sich in ein schlammig, braunen Urwaldpfad verwandelt. Endlich erreichte er trockeneres, von Sträuchern und Stauden bewachsenes Terrain. Hinter einer Felsnase öffnete sich der Blick auf die Bergriesen, die wie steinerne Wächter die pastorale Wiesen- und Auenlandschaft zu ihren Füßen beschützten. Einen Moment lang vermeinte er Harfenschlag zu hören. Er lauschte den zauberischen Klängen, die sich in das schäumen und strömen, dem glucksen und gluckern der Wildwasser mengten. Wer war jener mythische Harfner, der die Saiten der Natur zum Klingen brachte, der jene fein gesponnene, ins Transzendente transponierte Melodie komponierte, die des Menschen hungriger, rastloser Seele einen Moment inneren Friedens schenkte? Oder waren dies die mephistophelischen Töne eines Schattenfängers, der mit dem verführerischen Sang der Sirenen die Sinne des ewig Suchenden verwirrte und ihn in den tödlichen Sog von Scylla und Charybdis geraten ließ?
Ein lautstarkes Fiepen, ein schriller Pfiff – dann kehrte erwartungsvolle Stille ein. Die Hand über die Augen wölbend spähte Simon zu den blühenden Wiesenhängen unterhalb der Felsabbrüche hinauf. Da schlug der Wachposten erneut Alarm, verständigte den ahnungslos grasenden Murmeltier-Trupp, dass sich ein Raubvogel im Anflug befand. Simon suchte den graublau verschleierten Himmel ab, konnte jedoch keinen verdächtigen schwarzen Punkt, der ein Bussard, Habicht oder Adler sein mochte, ausmachen. Der Wächter fiepte indes unaufhörlich weiter:
„Achtung, Achtung, alle in den Bunker! Adleralarm!“
Simon schaute noch einmal zu den Hängen empor. Es hatte den Anschein, als ob dort oben König Laurin im Schutz seiner Tarnkappe durchs hohe Gras schlich. Simon sah wie sich die Halme bewegten, wie
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