Cruzifixus
Berghof thronte und der Virgilswinkel der Nabel der Welt war.“
Seine Finger zuckten spasmodisch, krampften sich um den Henkel des Haferls:
„Ich seh es förmlich vor mir: Man kennt sich, grüßt sich auf althergebrachte Weise und sorgt dafür, dass jeder in seinem Metier Karriere macht. Geld haben die Drei! Denn in den Wirren bei Kriegsende haben Sie Wertsachen vom Berghof beiseite geschafft und irgendwo versteckt. Doch im Lauf der Jahrzehnte sind Sie untereinander uneins geworden und beginnen sich zu mißtrauen.“
Vroni lächelte wie ein Psychiater, der einen aufgebrachten Patienten besänftigen will:
„Und der Pater war ihr Primus, ihr geistiger Führer! Einer, der an seine Sendung glaubt und im Namen des arischen Messias zu Gericht sitzt, um die Ungetreuen und Apostaten zu bestrafen.“
Ihre Stimme klang spöttisch und verächtlich:
„Scusi mein Lieber, den Nonsens kauft dir niemand ab! Und jetzt wird es Zeit für dich – it’s show time! Die Arbeit ruft.“
Überrascht hob er die Augenbrauen. Show Time? Hatte er einen Termin übersehen? Lud die Imkerinnung Immling zum Bienenball, feierte die Liedertafel Concordia ihr 100-jähriges Bestehen oder kam es in der A-Klasse zum Spitzenspiel zwischen Blau-Weiß Zacking und den Fußballfreunden Auing? Nichts von alledem wie ein Blick in Vronis triumphierende Miene erahnen ließ:
„Was ist heut für ein Tag? Richtig, Christi Himmelfahrt!“
Unwillkürlich zuckte er zusammen. Die Bittprozession! Wie konnte er das nur vergessen? Rasch blickte er auf die Uhr – wenn er gehörig Gas gab, würde er es noch schaffen.
Der fahrbare Untersatz war reif für den Schrottplatz. Mit klingelndem Motor quälte sich die altersschwache Rostlaube die Spitzkehren bergan, schlingerte auf profillosen Pneus durch die Haarnadelkurven. Simon schwor sich gleich nächste Woche nach einer Geländekarre mit 150 PS plus X, Allradantrieb und Breitreifen Ausschau zu halten, um bei der nächsten Prozession auf der Pole Position zu stehen. Im Medien-Metier galten die Spielregeln des freien Markts: der Erste schöpfte den Rahm ab und der Letzte ging leer aus! Als Platzhirsch musste er sein Revier verteidigen, Präsenz zu zeigen und Duftmarken setzen. Die Prozession selbst war Nebensache, zumal die Himmelfahrt nicht gerade zu den Highlights im Terminkalender des Heilands zählte: ein epischer Epilog zur Passionsgeschichte, eine etwas kitschig und rührselig anmutende Schlussvorstellung. Jesus würde wiederkehren – na und? Da war keine Action, da floss kein Blut, da fuhr Christus nur wie ein ins Exil geschickter Jedi-Meister auf einer Wolke gen Himmel – Punktum! Das mochte theologisch höchst bedeutsam sein, in dramaturgischer Hinsicht gab die Szene nichts her. Deshalb wunderte es Simon auch nicht, dass sich am Himmelfahrtstag nur noch die Unentwegten und ewig Gestrigen um die mit Christusmonogrammen bestickten Prozessionsfahnen scharten: 40 bis 50 alte Klageweiber im Sonntagsstaat, dazu ein paar Aktivisten aus dem Bibelkreis und ein paar versprengte Moralapostel. Angeführt wurde das Himmelfahrtskommando von einem übellaunigen Aushilfspfarrer aus Zimbabwe oder Kroatien, der gelangweilt hinter der Christusfahne hertrottete und an Bildstöcken und Feldkapellen entlang des Wegs einen „Vater Unser“ oder ein „Ave Maria“ herunterleierte. Bei jedem Halt blies die am Ende des Zugs marschierende Abordnung der örtlichen Blaskapelle auf Posaunen und Trompeten Trübsal. Wahrlich, der Katholizismus in Bayern hatte schon bessere Tage gesehen. Zumal heute eine tief hängende, schiefrig graue Wolkendecke über dem Land hing, alles erstickte und die Fahnen schlaff herabhängen ließ. Ja, es war wahrlich ein Trauerspiel – das Simon von seinem etwas abseits gelegnen Feldherrnhügel aus verfolgte. Von seiner erhöhten Warte aus, konnte er die gesamte Frontlinie im Blick behalten: Silvius Sagmeister war bereits in Stellung gegangen und hatte den sich langsam den Wiesensteig heraufwalzenden Prozessionslindwurm im Fadenkreuz seiner Kamera. Mit einem gehässigen Grinsen beobachtete er das extra aus München angereiste Kamerateam von TV-Weißblau bei der Arbeit. Der gestriegelte und geschniegelte Chefreporter war seinem Kameramann enteilt und sprang wie ein Sparifankal um die
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