Cruzifixus
lockeres Geröll den Hang herab purzelte. Die possierlichen Murmeltierchen rannten um ihr Leben, mobilisierten die letzten Kräfte um den Fängen des Greifs zu entkommen und den Eingang zur Höhle zu erreichen. Simon versuchte sich in die Lage eines Murmeltiers hineinzuversetzen: das Leben eines Nagers in freier Wildbahn war wahrlich kein Zuckerschlecken. Überall drohte Tod und Verderben. Die größte Gefahr ging allerdings von einem unheimlichen, gefiederten Wesen, einem Dämon namens Pelzebub aus. Ein Schrei – und es hatte sich ausgemümmelt! Nachdenklich geworden ging Simon seines Wegs. Man durfte sich keinen Illusionen hingeben: der Mensch war von Natur aus ein Karnivore, ein Jäger, der seiner Beute nachstellte. Ein seltsam schizophrenes Wesen jedoch, in dessen Brust zwei Seelen wohnten: die eines Mörder und die seines Opfers.
Auf Gipfeln und Graten lag der milde Glanz der Abendsonne, die Felsen leuchteten in purpurroten, violetten und malvenfarbenen Farbtönen. Über die Talmulde spannten sich bereits die abendlichen Schatten. Simon trat aus dem Fichtendickicht hervor und sah die weiten Weideflächen der Pfandler-Alm vor sich liegen. Sein Großvater war überzeugt gewesen, dass die Gegend ein vom Dämon verwünschter Ort war. Vom Norden, vom Oberland her, führte der einzige Zugang durch den felsigen Engpass der Kuhflucht-Klamm. Nach Süden hin riegelten die lotrecht aufsteigenden Felswände des Gamskogels und des Ödhorns den Talkessel ab. Nach Osten führte ein alter Schmugglerpfad über das Gamsjoch ins Falzturntal hinab und ins Salzburgische hinüber. Nach Westen wand sich ein schmaler, steiler Jägersteig zum Einschnitt der Schwarzen Scharte hinauf, um sich jenseits des Gebirgskamms in den unwegsamen Schutt- und Geröllwüsten des Ödkars zu verlieren. Wieso hatte sich der Eremit ausgerechnet hier oben verschanzt – wo er doch auf der Alm wie ein Fuchs in der Falle saß? Wollte er heimlich über die Grenze? Das hätte er bedeutend einfacher haben können. Hatte er hier oben abwarten wollen, bis Gras über die Sache gewachsen war? Woher kam dann dieser plötzliche Sinneswandel? Falls er Vinzenzens Beteuerungen Glauben schenken konnte, hatte er das Zusammentreffen auf ausdrücklichen Wunsch des alten Hell- und Schwarzsehers arrangiert. Vinzenz hatte ihm am Telefon förmlich angefleht, keine langen Fragen zu stellen und sich unverzüglich auf den Weg zu machen. Sein Onkel, der Einsiedler, käme ihm seltsam verändert vor und rede nur wirres Zeug. Ein Satz aus der Suada seines Freunds wollte Simon nicht aus dem Kopf gehen:
„Wein wird zu Essig, wenn man ihn nicht trinkt!“
Wieso hatte Vinzenz das Gespräch so abrupt beendet? Wieso hatte er keine Antwort auf seine drängenden Nachfragen erhalten? Hatte Vinzenz am Ende nicht aus freien Stücken gehandelt? Erwartete ihm auf der Alm eine unangenehme Überraschung, lagen die Waldbrüder schon auf der Lauer, um ihn als Geisel zu nehmen oder ihn einen Kopf kürzer zu machen? Irgendetwas war faul an der Geschichte. Es schien Simon unlogisch, dass der Eremit aus dem Limbus der Vorhölle zurückgekehrt war, um sich den Fragen eines „Ungläubigen“, eines „gottlosen“ Journalisten zu stellen. Je mehr er darüber nachdachte, desto mehr ungeklärte Fragen drängten sich ihm auf: War der als Valdas Rakauskas identifizierte Tote ein Anhänger des Eremiten, einer seiner Waldbrüder gewesen? Oder war der Priesterzögling aus Litauen ein vom vatikanischen Geheimdienst angeheuerter Assassine, der den Eremiten meucheln und die Ketzerkirche in die Luft sprengen sollte? Die Geschichte schien jedenfalls zusehends verworrener und verquerer zu werden. Ein Stacheldrahtzaun versperrte ihm den Weiterweg. Simon nahm den Rucksack ab, warf ihn über den Zaun und robbte wie ein Rekrut in der militärischen Grundausbildung auf den Stacheldrahtverhau zu. Wie ein Aal schlängelte er sich unter den mit Stacheln bewehrten Drahtrollen durch. Er hatte es fast geschafft, da platschte er bäuchlings in eine mit Kuhexkrementen glasierte Schlammkuhle. Ohne sich um etwaige im Gebüsch lauernde Entführer und Meuchelmörder zu bekümmern, fluchte Simon aus voller Kehle:
„Zefix alleluja! Diese Hurensbauern und ihre Drecksrindviecher! Überall müssen’s hinscheißen!“
Mühsam rappelte er sich auf. Simon sah aus, als ob er unverhofft eine Fangopackung abbekommen hatte. So gut es ging
Weitere Kostenlose Bücher