Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Cruzifixus

Cruzifixus

Titel: Cruzifixus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hans-Peter Dinesh Bauer
Vom Netzwerk:
Judas-Codex wusste hingegen unglaubliches zu berichten: Jesus war in jener Nacht am Ölberg heimlich gen Galiläa geflohen. Als die Jünger erwachten, waren Sie von den Kriegsknechten des Kaiphas umzingelt. Widerstand war zwecklos. Daraufhin hatten Petrus und Johannes auf Judas gezeigt: dieser sei der Gefährte des Messias! Man hatte Judas ergriffen und vor den Hohepriester geschleppt. Der hatte ihm 30 Silberlinge versprochen, falls er ihn zu seinem Meister führe. Doch Judas hatte sich standhaft geweigert seinen Rabbi zu verraten. So war er als Aufrührer verurteilt und ans Kreuz geschlagen worden. Zum Beweis dieser ungeheuerlichen Behauptung hatte der anonyme Chronist eine vom Profos der römischen Garnison in Jerusalem erstellte Liste der im Jahre 33 gekreuzigten Verbrecher und Rebellen beigefügt. Hatte das „Toledot Jeschu“ Recht? Et Judas crucifixus est?
     
    Fein säuberlich faltete Pio seine frisch gebügelten Hemden und Hosen zusammen, verstaute sie in einem teuren Lederkoffer und legte die Bibel und das Buch Juda oben auf. Er strich eine Bügelfalte glatt und ließ die Verschlüsse zuschnappen. Um einer Welt der Amoral, des ungezügelten Materialismus und der allgemeinen Sittenlosigkeit die Stirn zu bieten, durfte man sich keine Blöße geben, musste man nach Innen wie Außen Stärke demonstrieren! Pio setzte sich auf die Stuhlkante und betrachtete das frisch bezogene, makellos saubere Bett. Wer ein Chaos hinterließ, hinterließ zwangsläufig Spuren. Eine sorgfältige, methodische Planung war in seinem Metier das A und O. In diesem speziellen Fall musste er jedoch nach Plan B vorgehen. Ein grausames Lächeln kräuselte seine dünnen, blutleeren Lippen. Der Chauffeur des Erzbischofs war schon jetzt ein toter Mann und der auf ihn angesetzte Meuchelmörder würde vergeblich auf ihn warten. Pio klemmte den Telefonhörer hinters Ohr und bat den Bruder Pförtner in ausgesucht, höflichen Worten seine Sachen nach unten zu bringen. Er beschloss die Wartezeit zu nutzen, um in den Zeitungen nachzulesen, was es Wichtiges in der Welt gab. Neben dem Refektorium hatten die Mönche einen Aufenthaltsraum mit Sitzbänken und einer Leseecke eingerichtet. Pio wühlte in den dort aufliegenden Magazinen, Lokal- und Boulevardblättern. Ein armseliges Blättchen mit dem überdimensionierten Schriftzug "Merkur" in der Titelzeile stach ihm ins Auge. Merkur, Hermes! Der Götterbote der Olympier, der Gründervater des hermeneutischen Korpus! Welch hochtrabender Titel für eine Provinz-Postille. Ein süffisantes Lächeln huschte um seine Mundwinkel. Es gehörte zu seinem Job die Berichterstattung in den lokalen und nationalen Medien aufmerksam zu verfolgen, die kleinen und großen seismographischen Erschütterungen der Weltbühne zu registrieren. Pio blätterte, einer alten Gewohnheit folgend, als erstes im Sportteil. Dabei behielt er unauffällig die Tür im Auge. Man wusste ja nie. Prompt betrat ein bulliger, bärtiger Benediktinerbruder den Raum. Der vierschrötige Waldschrat bedachte ihn mit grimmigen, missfälligen Blicken. Ein unfreundliches „Gott zum Gruß“ murmelnd, verschwand er so schnell wie er gekommen war. Pio wollte gerade die reaktionäre Gaugazette weglegen, als ihn eine in dicke Farbbalken gesetzte Schlagzeile ansprang:
                „Todesdrama: War er der Marter-Mörder?“
                Pio erkannte den Toten auf dem grobkörnigen, etwas unscharf geratenen Foto sofort wieder: Egidius - sein Bruder. Die Nachricht seines Todes ließ ihn kalt. Schon als Kinder hatten sie einander nicht gemocht. Und auch später, als „Vermisster“, hatte er nie das Bedürfnis verspürt, in den Schoß der Familie zurückzukehren. Was vorbei war, war vorbei. Der Löwe des Zorns riss nur allzu leicht alte Wunden auf. Ägid hatte weder das Format, noch die Courage über seinen Schatten zu springen, geschweige denn einen großen Coup zu landen. Nein, der senile Schwachkopf war keiner der den Vatikan erpresste – auch wenn er in irgendwelchen Flugblättchen gegen die Reformer in Rom, gegen die Avantgarde des Antichristen wetterte. Sollte er in Frieden ruhen – oder zum Teufel gehen! Was Pio allerdings stutzig machte, war der Umstand, dass die Zeitungsfritzen gerade ihn für den „Marterl-Mörder“ hielten. Welch grotesker Gedanke! Dieser harmlose Spinner sollte ein kaltblütiger Killer sein? Niemals! Mit berufsmäßiger Akribie sezierte Pio den zweiseitigen Bericht aus der Feder eines gewissen Simon

Weitere Kostenlose Bücher