Cruzifixus
er praktiziere einen Teufelskult, er unterhalte insgeheim Beziehungen zu häretischen Sekten und nutze seine Stellung aus, um hochrangige, kirchliche Würdenträger zu erpressen. Die Intriganten des Opus Dei ließen nichts unversucht. Um den Opus-Leuten den Wind aus den Segeln zu nehmen, hatte der Exekutivausschuss der „Sieben“ voriges Jahr eine interne Untersuchung gegen ihn eingeleitet. Das Ergebnis war eindeutig: die gegen ihn erhobenen Vorwürfe waren vollkommen haltlos und entbehrten jeglicher Grundlage. Trotzdem war etwas hängen geblieben! Nach der Anhörung hatte ihn Gasparini ins Gebet genommen:
„Padre! Wir sind die Speerspitze Christi. Seid euch dieser besonderen Verantwortung bewusst: es ist an euch ob ihr den Geist des Glaubens bewahrt oder den selbstsüchtigen, bösen Begierden des Herzens folgt!“
Das Opus hatte sein primäres Ziel erreicht – das Vertrauen seiner Vorgesetzten in ihn war untergraben.
Der Gedanke an seine im Dunklen lauernden Gegner machte ihn wütend, machte ihn rasend. Er hatte sich nie auf irgendwelche schmutzigen Deals eingelassen, sich von keinem Päderasten-Popen bestechen, von keinem verlotterten Mafia-Emissär kaufen lassen. Und doch wurde er andauernd mit neuen Vorwürfen und Verdächtigungen konfrontiert. Wie sollte er sich dagegen wehren? Seit Monaten hatte er das Gefühl unter Beobachtung zu stehen, im Geheimen ausgespäht und überwacht zu werden. Er wusste nur zu gut was passieren würde, wenn die „Sieben“ ihre schützende Hand von ihm zurückzogen. Während er hier weit ab vom Schuss saß, wühlten die Intriganten und Denunzianten in Rom unablässig weiter. Hatten Sie ihr Ziel bereits erreicht? Befand sich sein Name auf der roten Liste? War der Meuchelmörder schon auf dem Weg hierher? Der Furchtsame kannte keine Einsamkeit, hinter seinem Rücken stand stets der Feind. Er brauchte dringend einen Schutzengel, eine Rückversicherung. Und wenn ihn nicht alles täuschte, hatte er eine solche „Risikopolice“ durch Zufall in die Hände bekommen. Pio schloss das Fenster und ging zum Schreibtisch. Darauf thronte ein unscheinbares Büchlein mit einem speckigen, fleckigen Ledereinband. Das Verrückte daran war, dass er das Buch vor über fünfzig Jahren schon einmal in Händen gehabt und ihm keine Beachtung geschenkt hatte. Streng genommen war er der Auslöser dafür gewesen, dass der „Schatz“ über einige Umwege in die Hochhartinger Einsiedelei gelangt war. Nun hatte er durch Zufall - oder war es Schicksal – das „verlorene“ Buch wieder entdeckt. Liebevoll strich er über den rauen, ramponierten Einband. Im Exlibris rankten sich zwei ineinander verschlungene Runen wie Efeu an den Initialen des Führers „WH – Wolf Hitler“ empor. Pio hatte im Laufe seines langen Landserlebens einiges dazugelernt, so dass es ein tödlicher Fehler sein konnte, ein Buch nur nach seinem Aussehen zu beurteilen. Mit einem leisen, nachsichtigen Lächeln blätterte er in dem schmalen Bändchen, das den Tod des Judas schilderte. Der „zwölfte Jünger“ hatte Pio von jeher interessiert, ja fasziniert. Über Jahrhunderte war Judas Iskarioth zum Archetyp des Verräters stilisiert, als Sohn der Finsternis verleumdet worden. In der jüdischen Literatur wie in der Sagensammlung „Toledot Jeschu“ hingegen wurde er als engelhafter Widerpart Jesu, als „wahrer Messias“ gepriesen. Dem Judas der Bibel eignete eine seltsam schillernde Doppelnatur. Er erschien als Getriebener, als in sich zerrissener, zwiespältiger Charakter. Eine ambivalente, abgründige Gestalt von merkwürdig wankelmütigen Wesen. Der Judas der Evangelien wirkte konstruiert, erschien wie eine in sich unstimmige literarische Figur, die zum Phänotyp des Verräters stilisiert wurde. Für Pio stellte sich vor allem eine Frage: Jeder in Jerusalem wusste doch wer Jesus war und wo er und seine Jünger kampierten. Wieso in aller Welt sollte der Sanhedrin also eine Belohnung zur Ergreifung Jesu aussetzen und jemand anheuern, um den allseits bekannten Nazarener zu identifizieren? Das ergab keinen Sinn! Und wie war Judas gestorben? Die Evangelisten widersprachen sich in diesem Punkt diametral: Bei Matthäus stand geschrieben, dass er sich von Reue getrieben erhängt hatte. Gemäß der Apostelgeschichte war Judas jedoch vornüber zu Boden gestürzt und mitten entzwei geborsten. Und bei Markus oder Johannes? Fehlanzeige! Das Ende des Verräters blieb im Dunklen. Der
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