Cruzifixus
Sternsteiner. Der Typ hätte Kriminalschriftsteller werden sollen: die Geschichte einer mysteriösen Mordserie, in der ominösen Dunkelmänner und obskure Geheimgesellschaften ihr Unwesen trieben war frei erfunden. Der Schreiberling hatte offenbar eine lebhafte Phantasie. Jedenfalls unterstellte er, dass der „Alte vom Berg“ – also sein Bruder - der Anführer einer okkulten Bruderschaft gewesen sei: die Waldbrüder, ein Haufen irregeleiteter Idealisten und Sozialrevoluzzer. Der Eremit, als ihr „Spiritus Rector“, hätte das Kommen des dritten Reichs erwartet, den Aufstand gegen die Reichen gepredigt und den Geist der Armut in Form des Heiligen von Fiore verehrt. Pio schüttelte widerwillig den Kopf. Litt dieser Sternsteiner an Realitätsverlust, an kurzzeitigen Bewusstseinstrübungen? Es widersprach jedwedem journalistischen Ethos, sich allein auf die Aussagen eines anonym bleibenden Gewährsmanns zu stützen, der sich immerfort in dunklen Andeutungen erging, eine Reihe unbewiesener Behauptungen aufstellte und „im Drüben“ fischte. Fehlende Fakten wurden durch ein Gespinst aus Lügen und Halbwahrheiten ersetzt, die Löcher in der Beweiskette mit dem Nimbus des Numinosen umwoben. Um das Maß voll zu machen, griff der Autor auf Versatzstücke des biblischen „Dämonen-Dramas“ zurück und bastelte daraus seine eigene, abstruse Verschwörungsgeschichte. Sternsteiner ließ kein Klischee aus: eine in teuflische Machenschaften verstrickte Bruderschaft, ein mephistophelischer Ränkeschmied, der im Hintergrund die Fäden zog. Der Eremit und seine etwas tumbe Anhängerschar, die sich von den „Mächten des Bösen“ an der Nase herumführen und wie Marionetten benutzen ließen. Die Story war durchaus unterhaltsam, ja manche Einfälle des verhinderten Groschenromanciers versetzten ihn in Erstaunen, andere wiederum entlockten ihm ein amüsiertes Lächeln. Die Feststellung, dass der „Modus operandi“ des Täters auf einen religiösen Fanatiker schließen lasse, ließ Pio vergnügt schmunzeln. Die Diagnose Dirrigls, den Sternsteiner als hintertriebenen Zuträger, als machtgierigen Ehrgeizling charakterisierte, traf überraschenderweise des Pudels Kern. Die Beschreibung seines Bruders als „orakelhaften Hüter des Horts der Weisheit“ entbehrte indes nicht einer gewissen Tragikomik. Von wegen vergeistigt, von wegen hellseherisch, von wegen sibyllinisch. Pio wusste es besser: sein Bruder war ein seltsamer Heiliger, ja ein einfältiger Tropf.
Egidius! Es war eine Ironie der Geschichte, dass ausgerechnet dieser närrische Betbruder posthum aufs Heldenschild gehoben wurde. Wenn es einen Gott gab, der die Schicksalsfäden wie die Zügel der Quadriga in der Hand hielt und über Triumph und Misserfolg entschied, über Ruhm und Ruin bestimmte, dann lachte er jetzt sicherlich Tränen. Sein Bruder - ein Heros im Lorbeerkranz, ein Heiliger im Glorienschein? Pio musste herzhaft lachen. Egidius war ein bänglicher Knabe, ein Prinz Hasenherz gewesen, der allen brenzligen Situationen aus dem Weg ging. Er besaß das Naturell eines Domestiken, wie geschaffen, um zu katzbuckeln und den Herrschaften den Schlag aufzuhalten. Diesen Duckmäuser als dämonischen Demagogen, als charismatischen Führer hinzustellen – dieser Einfall musste dem boshaften Hirn eines Possenschreibers entsprungen sein! Er lachte rau und humorlos. Schon als kleiner Junge hatte er bezweifelt, dass dieser greinende Schwächling sein Bruder sein sollte. Während er dem Ideal des forschen, schneidigen Bauernburschen entsprach, der zum Wildern in den Wald und den Dirnen untern Rock ging, sank sein aus der Art geschlagener Bruder vor jedem x-beliebigen Kruzifix auf die Knie, blickte mit sehnsuchtsvollen Blicken zum Heiland hinauf und leierte einen Rosenkranz nach dem anderen herunter. Die Leute im Dorf hielten ihn für einen Spinner, einen Sonderling, der Stunde um Stunde im Gebet verbrachte, seine kreidige Nase in dicke, theologische Schwarten steckte und das Wirtshaus, „diese Brutstätte der Sünde“, mied wie der Teufel das Weihwasser. Kurzum: sein Bruder lebte von jeher in einer irrealen Wolkenwelt. Es schien ihm abstrus, dass Egid ein Seher mit prophetischen Gaben sein sollte, wo er nicht einmal in der Lage war seine eigenen spirituell, sexuellen Obsessionen zu beherrschen. Schon als pubertierender, pickliger Jüngling hatte Egidius die bildlichen Darstellungen des jüngsten Gerichts erregt. Er hatte seinen Bruder schon damals im Verdacht, dass ihn
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