Cruzifixus
halten. Die Schergen der Societas Cordialis waren die Hirten und Hüter der Orthodoxie, die Wahrer des messianischen Monopols der Kirche Jesu Christi! Einer der Sieben, Kardinal Gennaro Gasparini, war lange Jahre Pios Vorgesetzter im Referat VII - Servizi Segreti - gewesen und wusste um seine besonderen Fähigkeiten, geräuschlos und effizient zu arbeiten. Beim Studium des rasch zusammengestellten Dossiers war der Kardinal über einen bekannt klingenden, wenn auch für einen waschechten Neapolitaner unaussprechlichen Namen gestolpert: Hallhofer! Gasparini hatte sofort begriffen, dass er diese heikle Mission nur einem anvertrauen konnte: Padre Pio!
Die Luft in der engen Zelle war zum schneiden. Er hatte das Gefühl zu ersticken. Pio riss das Fenster sperrangelweit auf und genoss die kühle, würzige Morgenluft in vollen Zügen. Die Wälder und Wiesen hinter dem Kloster dampften. Nebelschwaden strichen um die steilen, mit rostroten Ziegeln gedeckten Dächer. Die Feuchtigkeit ließ seine Brillengläser beschlagen. Ein Tag wie geschaffen, um unten am Fluss die Angelrute auszuwerfen. Er lehnte sich aus dem Fenster und lugte ums Hauseck: der Klosterhof lag leer und verlassen. Es würde wohl noch etwas dauern, bis ihn die Limousine des Erzbischofs abholen kam. Wie von selbst wandte sich sein Blick nach Süden, dort wo sich die vertraute Silhouette der Virgilswinkler Berge aus dem Nebelmeer schälte. Lag es am Alter, dass er immer häufiger in die Ferne und weiter zurück in die Vergangenheit blickte? Wie lange war es her, dass er den heiligen Eid aufs Kreuzbanner geschworen hatte? 50 Jahre, 60 Jahre? Er war stets ein loyaler Diener der Societas Salomonis gewesen. Ein ums andre mal war es ihm gelungen, den Feind zu überlisten, den Gegner mit seinen eigenen Waffen zu schlagen. Selbst wenn man Gott auf seiner Seite wusste, musste man die Stärken und Schwächen seines Widersachers genau kennen. Vorsicht war die Mutter des Siegs. Sich mitten unter die Feinde werfen, war dagegen ein Merkmal der Feigheit. Es gab Momente im Leben, da war es klüger den Rückzug anzutreten und die Fronten zu wechseln. So wie im Frühjahr 45. Damals hatte er die feldgraue Uniform der SS-Kampftruppen an den Nagel gehängt und sich über alle Berge davongemacht. Kadavergehorsam und Nibelungentreue bis in den Tod waren seine Sache nie gewesen. Man musste pragmatisch und umsichtig handeln und durfte keine ideologischen Scheuklappen haben. So hatte er eine Kehrtwende vollzogen und war dem Ruf Roms gefolgt. Die Societas war eine Top-Adresse und dazu „top secret“: seine Agenten arbeiteten „Undercover“ hinter den feindlichen Linien und wurden mit streng vertraulichen, internen Operationen betraut. Diskretion, Lautlosigkeit, Präzisionsarbeit und absolute Verschwiegenheit genossen oberste Priorität. In geheimer Mission durfte man sich keine Fehler und Nachlässigkeiten erlauben. Das war in der guten, alten Zeit bei der SS anders gewesen. Wo gehobelt wurde, fielen eben Späne. Pio hatte sich wie ein Chamäleon an die neue Umgebung angepasst und sich das nötige Rüstzeug beschafft – und zwar theoretisch wie praktisch. Er hatte am Studienkolleg der Societas theologische Traktate gewälzt, sich in den Kaderschmieden der Kurie ideologisch schulen lassen und hatte in einem geheimen Ausbildungscamp des Mossad in der Wüste Negev ein Anti-Terrortraining absolviert. Über 25 Jahre hatte er im Dienst einer Spezialeinheit, einer Art Prätorianergarde des Pontifex, gestanden. Irgendwann war er zu alt für diese Scherze geworden – und er hatte zum „Special Agent“ umgesattelt. Seine Tarnung war perfekt gewählt: ein verschrobener Privatgelehrter, der frühchristliche Artefakte, alte Kodices und Handschriften sammelte. Niemand vermutete hinter den exzentrischen, schrulligen Professor mit dicken Augengläsern einen Geheimdienstmann des Vatikans. Niemand! Einige spektakuläre Aktionen in den letzten zwei, drei Jahren gingen auf sein Konto. So hatte er in Kairo eine Gruppe von Muslimbrüdern auffliegen lassen, die ein Attentat auf den Archimandriten von Alexandria vorbereitet hatten und gleichzeitig dafür gesorgt, dass ein abtrünniger Anachoret, der als Apologet des Antichristen in der Ostkirche Unruhe stiftete, von Angehörigen einer anderen radikalislamischen Gruppierung beim Betreten eines Bethauses massakriert wurde. So schlug man zwei Fliegen mit einer Klappe! Mit dem Erfolg kamen jedoch die Neider. Immer wieder wurden Vorwürfe gegen ihn laut:
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