Cruzifixus
Killer vor seinen Augen sein verdientes Ende gefunden? Oder hatte hier ein vom fixen Gedanken an Schuld und Sühne Besessener den Tod versucht? Wie hatte es Nietzsche in seiner unnachahmlichen Art formuliert: Es gibt eine ungeheure Spannung und Spannweite zwischen Neid und Freundschaft, zwischen Selbstverachtung und Stolz: in der ersten lebte der Grieche, in der zweiten der Christ.
Die Pfade des Jenseits
Roma locuta, causa finita! Rom hat gesprochen, der Fall ist erledigt.
Mission P war beendet. Padre Pio packte seine Siebensachen, verstaute Waffen und Munition, Sprengstoffgürtel und Zündkapseln in einem mit Schaumstoff gepolsterten Metallkoffer. Der Abschied fiel ihm nicht leicht. Seine Heimat würde er wohl nicht wieder sehen. Aber man musste abtreten, ehe der letzte Vorhang fiel, ehe man Gefahr lief, zum sentimentalen Narren zu mutieren. Melancholisch gestimmt summte Pio:
„Sag zum Abschied leise Servus!“
Es war Zeit die Zelte abzubrechen, zumal der Fall offiziell abgeschlossen war. Das von Papst Pius eigenhändig unterzeichnete und gesiegelte Schreiben an den „geliebten Führer“, samt dem „Memorandum Mosaicum“, ruhte sicher wie in Abrahams Schoß in einem Tresor unterm Tiber. Kein Unbefugter würde es jemals zu Gesicht bekommen. Ja, es war so als ob jener unheilvolle Brief nie geschrieben worden war. Das „Memorandum“ war wie ein Stachel im Fleisch des Vatikans gewesen: die von Kurienkardinal Claudio Caffarelli, einem Busen- und Musenfreund Mussolinis, aufgesetzte Denkschrift lief auf den Vorschlag hinaus, das Problem des europäischen Judentums mit einer konzertierten Aktion zu beseitigen: Jüdischstämmige, die bereit waren dem mosaischen Glauben abzuschwören und zum Katholizismus zu konvertieren, sollten in die Obhut der Kirche genommen und in einer Art apostolischen Archipel Gulag zu rechtgläubigen Christen umerzogen werden. Die „verstockten, hartnäckigen Christusleugner“ sollten hingegen wie verstockte Ketzer behandelt werden – sprich in den Gaskammern von Auschwitz oder Treblinka verschwinden. Der Führer ließ die Demarche des Papstes allerdings unbeantwortet und legte das Memorandum ad acta. Im Vatikan war man irrigerweise davon ausgegangen, dass die Schriftstücke mitsamt anderen geheimen Papieren von speziellen SS-Einheiten vernichtet worden waren. Vor einem knappen Jahr war jedoch ein zwielichtiger Winkeladvokat aus dem Dunstkreis der Paintinger-Gruppe in Rom vorstellig geworden und hatte behauptet, dass sein Mandant, im Besitz einiger brisanter Dokumente sei, die das Verhältnis des Heiligen Stuhls zum Dritten Reich in einem denkbar schlechten Licht erscheinen ließen. Sein Mandant sei jedoch bereit die Schriftstücke „von historischem Wert“ gegen einen Betrag von 15 Millionen Euro an den Vatikan zu übereignen. Das Sekretariat des Offiziums hatte keinen Moment gezögert und den apostolischen Abwehrdienst eingeschaltet. Noch am selben Abend hatten sich die „Sixtinischen Sieben“ unter Vorsitz des Meisters zu einer Krisensitzung getroffen. Um die Einheit der Kirche, um die Dogmen, die „ewigen Wahrheiten“ des Glaubens zu bewahren, musste man gelegentlich Retuschen am Bild der Geschichte vornehmen und einige dunklen Flecken beseitigen. So wie in diesem Fall! Seit zwei Jahrtausenden sorgten das heilige Offizium und die Societas Salomonis dafür, dass es nur eine, unverbrüchliche christliche Wahrheit gab. Die Bluthunde des Herrn hatten die Sisyphusaufgabe auf sich genommen, der Hydra der Häresie deren stets aufs Neue nachwachsenden Köpfe abzuschlagen. Pio war einer dieser unerschrockenen Drachentöter. Bei seinen Einsätzen stieß er ein ums andere mal auf die scheinbar unausrottbare Teufelsbrut der Schwarmgeister, Sektierer und Dissidenten. Diese ketzerische Bande berief sich regelmäßig auf die Offenbarung eines zu ihnen gesandten Engels, stützten ihre verqueren Irrlehren auf die Überlieferungen eines okkulten Großmeisters oder behaupteten im Besitz eines geheimen Evangeliums oder gar eines Pergament-Fragments von der Hand Jesu zu sein. Pio kannte seine Pappenheimer: eifernde, geifernde Irrsinnige, parapsychologisch begabte Malkontenten, verlotterte Mönchsbrüder, die sich als die Inkarnation Johannes des Täufers oder des Heiland höchstpersönlich ausgaben und den Leichtgläubigen die Parusie Christi verkündigten. Es war sein Job, diese irrlichternde Schar geistesgestörter Geistergläubiger im Zaum zu
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