Cruzifixus
befreit, die Kisten unter einigem Gezerre und Geschiebe in ein noch von der Schmugglerbande seines Urgroßvaters Bartholomäus Hallhofer angelegtes Versteck bugsiert. Danach hatte er den „dicken Herrmann“ versorgt und sich ein paar Stunden aufs Ohr gelegt. Spät abends hatte plötzlich jemand an die Tür gepumpert. Pio war in der Unterhose aus dem Bett geschlüpft, hatte seinen Revolver gegriffen und sich hinter der Tür postiert. Von draußen drang ein ungeduldiges, unwirsches Rufen an sein Ohr:
„Ignaz, du alter Bazi! Ich bin’s der Pauli! Jetzt mach gefälligst auf! Bei der Kälte friert man sich ja den Sack ab.“
Schon damals hatte er sich gefragt, wieso dieser hintertriebene Halsabschneider hier herumschlich – und weshalb er sich ausgerechnet mit dem Niederstrasser „Nazi“, dieser Kanalratte in Menschengestalt, verabredet hatte. Mit weit aufgerissenen Augen hatte Paintinger in den Lauf seiner Walther P 38 gestarrt. Er hatte ihn zur Rede gestellt, ihn gefragt was er auf der Alm seines Onkels zu schaffen habe. Wie ein in flagranti ertappter Ehebrecher hatte er herumgestottert und ihm mit Meineidsmiene erzählt, dass er auf dem Weg zu einer geheimen Zusammenkunft der Kreuzbrüder beim Urtelstein sei. Pio hatte so getan, als ob er seinen Ausführungen Glauben schenkte, den Drecksack aber keinen Moment aus den Augen gelassen. Paintinger war bekannt dafür, dass er ein raffinierter Raffzahn war, der beste Beziehungen zu den Parteibonzen der Gauleitung und Hitlers Berghofkamarilla unterhielt. Er und der „Nazi“ waren in diverse krumme Geschäfte verwickelt. Nun versuchten sie anscheinend ihr Scherflein ins Trockene zu bringen. Wie erwartet mimte Paintinger den Selbstlosen, den „aufrichtigen, ehrlichen Kumpel“, auf den man sich tausendprozentig verlassen konnte. Pio wusste was von solchen Beteuerungen zu halten war – er hätte sich eher die Zungenspitze abgebissen, als den miesen Drecksack etwas auf die Nase zu binden. Paintinger hatte sich wie ein Fisch gewunden und ihm „unter dem Siegel der Verschwiegenheit“ anvertraut, dass „er und der Nazi dabei seien, Vorkehrungen für die Zeit nach dem Endsieg zu treffen“. Der falsche Hund hatte einen Flachmann aus der Tasche gezogen und ein Glas „auf die Götterdämmerung“ geleert. Dann war er in der Nacht verschwunden, angeblich um sich am Urtelstein mit Niederstrasser und drei Mitverschworenen über die zu treffenden Maßnahmen zu bereden. In dieser Nacht hatte Pio kein Auge zugetan. Am nächsten Morgen hatte er das Nötigste zusammengepackt, den „getreuen Grauen“ mit einem Klaps auf den Hintern in die Freiheit entlassen und war Hals über Kopf aufgebrochen. Wie es der Teufel wollte hatte sein Onkel ein paar Monate darauf die Kisten gefunden – und da er mit dem lateinischen „Bücherzeugs“ partout nichts anzufangen wusste, seinen Bruder Ägid über den Fund informiert: so hatte das Verhängnis seinen Lauf genommen. Ihm selbst war damals nur unter Aufbietung der letzten Kräfte die Flucht übers Gebirge gelungen. In Werfenhofen hatte sich der Pfarrer der abgerissenen, halb verhungerten Jammergestalt angenommen. Der wohl beleibte Herr hatte ihm im Pfarrhof Unterschlupf gewährt, ihn mit Brei und Brühe aufgepäppelt und einen gefälschten Rotkreuz-Ausweis auf den Namen Pius Firmian Weichselbaumer besorgt. Unter der neuen Identität eines abgemusterten Südtiroler Wehrmachtssoldaten war er problemlos bis nach Rom gelangt. Dort hatte er an die Pforten des Himmels geklopft – und ihm war aufgetan worden.
Es gab Dinge im Christentum, an die würde er sich nie gewöhnen: zum Beispiel die Prosternation: vor den Oberen mit kreuzförmig ausgestreckten Armen auf dem Boden zu liegen, war in seinen Augen ein entwürdigendes und demütigendes Schauspiel. Vor dem Altar lag ein graubärtiger, gebrechlich wirkender Mönch mit kreuzförmig von sich gestreckten Armen auf dem kalten Steinfußboden. Diese Unterwerfungsgeste hatte für ihn etwas Würdeloses, Sklavisches. Wenn Gott in die Herzen des Menschen blickte, was machte es für einen Unterschied ob sich jemand vor ihm wie vor einen Despoten niederwarf? Pio hatte sich in die Sakramentskapelle der Abtei zurückgezogen, um Zwiesprache mit seinem Herrn und Meister zu halten. Der im mythischen Halbdunkel liegende Raum war der ideale Platz, um zu meditieren und sich in die Weltferne der „vita contemplativa“ zu versenken. Es hatte Jahre gebraucht und
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