Cruzifixus
Kompanie nahm im Karree Aufstellung. Der Obrist hob seinen Säbel und kommandierte mit martialischem Ernst:
„Achtung! Legt an! Gebt Feuer!“
Die Salve zum Salut schreckte ein Dutzend Krähen auf, die es sich auf dem heißen Blechdach der Aussegnungshalle bequem gemacht hatten. Unter protestierendem Krächzen erhoben sich die schwarzen Vögel in die Lüfte und kreisten über den Köpfen der Trauergemeinde.
Trauben von Schaulustigen umstanden in einem weiten Halbkreis das Grab, um einen Blick auf die Virgilswinkler-VIPs zu erhaschen. Die Reihen der Provinzprominenz, der Politpopanze, Profitpotentaten und Bakschischbarone waren fest geschlossen. Mitten unter ihnen trug „Merkurmogul“ Griesgruber eine kühl, distanzierte Leichenbittermiene zur Schau. Dieselbe Miene setzte er auf, wenn es darum ging Lohn- und Gehaltsforderungen der Belegschaft abzuschmettern. Ein Gesichtsausdruck so grimmig und gestreng wie der eines Mongolenkhans im Angesicht der vor ihm im Staub kriechenden Parias. Schwarz gewandete Sicherheitsleute mit Knopf im Ohr verfolgten das Treiben mit Argusaugen. Die Sargträger leisteten Schwerstarbeit. Während der Chef-Ministrant sichtlich gelangweilt das Weihrauchfässchen hin- und her schwenkte, ächzten die Vier unter der Eichen- und Leichenlast. Die im vollen Habit angetretenen „armen Kreuzritter“ waren schweißgebadet wie dereinst Simon von Kyrene auf dem Weg nach Golgatha. Um sich die beste „Schussposition“ zu sichern, pflügte Silvius „Schnappschuß“ Sagmeister ohne Rücksicht auf Verluste durch die Schaulustigen und kletterte auf einen benachbarten Grabstein. Simon senkte seinen Blick, so als ob er auf dem Kiesboden einen Goldtaler erspäht hatte. Insgeheim musste er grinsen. Sagmeister und der Rest der Fotografenhorde gab sich alle erdenkliche Mühe, die gängigen Klischeevorstellungen eines im wahrsten Sinne des Wortes über Leichen gehenden Medien-Mobs zu bestätigen und das Negativimage ihres Berufsstands aufzupolieren. Sagmeister interessierte sich weniger für den Toten im Sarg, als für die illustre Schar der Ehrengäste. Er richtete sein Objektiv auf die selbstgefällig dreinblickenden Amtsamigos, die mit geschwellter Brust umher stolzierenden Wald- und Wiesenwesire, die sich argwöhnisch beäugenden Ritterbrüder. Er hüpfte vom Grabstein, zoomte hin, schwenkte her und betätigte im Sekundentakt den Auslöser. Die Highsociety Hanswursten mochten Sagmeister zwar abfällig belächeln, doch der Merkur-Fotograf war groß im Geschäft, fotografierte bei Townhall Meetings, Celebrity Dinners und anderen angesagten Events der Schickeria. Simon hielt sich hingegen fern von der „Hautevolee“ und ihrem aus wichtigtuerischen Hofschranzen und pomadig daherkommenden Pöstchenjägern bestehenden Gefolge. Ganz bewusst hielt er auf Abstand zu den Bussibussi-Bastarden und Schulterklopfern, die sich in den Szenelokalen tummelten. Bevor er mit den Wölfen heulte, blieb er lieber am Rande des Rudels. Seine Sympathien galten den ewigen Rebellen, die mit dem Querkopf durch die Wand wollten und prinzipiell gegen den Strom schwammen. Wenn er die Wahl gehabt hätte, mit einem der drei Toten ein Exklusivinterview zu führen, hätte er sich ohne zu zögern für den verrückten Frater entschieden. Pflegten doch Wahnsinn und Genie stets Hand in Hand zu gehen.
Simons Blicke schweiften ruhelos umher. Unter den geladenen Gästen erspähte er ein bekanntes Gesicht: Pfarrvikar Pfleiderer. Ein schwarzsamtenes Künstlerkäppi überwölbte seine hohe Denkerstirn. Eben tupfte er mit einem Seidentüchlein ein paar imaginäre Tränen aus den Augenwinkeln. Der Arbinger Pfarrer machte jedenfalls keinen geknickten oder gar tieftraurigen Eindruck. Der progressiv gesinnte Freigeist zählte nicht gerade zu den Freunden von Niederstrassers ultrakonservativer Clique. Seine liberalen Ansichten zur Homo-Ehe, zum Laienkelch und zur kirchlichen Schwangerschaftsberatung hatten ihn den öffentlichen Tadel seiner Eminenz eingetragen. Der Tod des Fundi-Führers schien ihn wenig zu bekümmern. Es sah eher so aus, als ob der Vikar den Tod seiner Eminenz zum Anlass für ein Bacchanal genommen hatte. Bartstoppeln bedeckten Kinn und Wangen, Schattenringe umrandeten seine tief in den Höhlen liegenden Augen. Pfleiderers Achillesferse war seine Genusssucht, sein Hang zu edlen Weinen und hochgeistigen Spirituosen. Erst vor ein paar Tagen hatte er bei ein paar Gläschen
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